In Abwesenheit der Oppositionsführerin wurde die Verhandlung wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Veruntreuung eröffnet.

Kiew. Ungeachtet internationaler Proteste ist in der Ukraine ein zweiter Strafprozess gegen die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko fortgesetzt worden. In Abwesenheit der erkrankten Oppositionsführerin eröffnete Richter Konstantin Sadowski am Sonnabend in der Stadt Charkow die Verhandlung wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Veruntreuung, berichteten örtliche Medien aus dem Gericht in der Ex-Sowjetrepublik. Nach einer kurzen Anhörung vertagte Sadowski den Prozess auf den 21. Mai.

Einem entsprechenden Antrag der Verteidigung stimmte auch Staatsanwalt Viktor Lobatsch zu. „Wir sollten abwarten, ob Frau Timoschenko verhandlungsfähig ist“, sagte Lobatsch. Timoschenkos Anwalt Sergej Wlassenko hatte dem Gericht eine Bescheinigung der Berliner Charité vorgelegt. Darin erklären Charité-Chef Karl Max Einhäupl und Cheforthopäde Norbert Haas die Politikerin für nicht verhandlungsfähig. Timoschenko klagt über starke Rückenschmerzen und befindet sich seit gut einer Woche im Hungerstreik.

Sadowski zitierte auch aus einer Erklärung der ukrainischen Ärztekommission. Diese betont, dass sie aufgrund der Weigerung Timoschenkos keine Möglichkeit habe, ihre Verhandlungsfähigkeit zu prüfen. Vor dem Gerichtsgebäude in Charkow demonstrierten trotz eines Versammlungsverbots zahlreiche Anhänger und Gegner der 51-Jährigen.

Die aktuellen Vorwürfe gegen die Politikerin stammen aus den 1990er Jahren, als sie Chefin eines Energiekonzerns war. Timoschenko, die in einem ersten Prozess bereits zu sieben Jahren verurteilt worden war, drohen weitere zwölf Jahre Haft. Ihre Anwälte fordern, das Verfahren einzustellen. Beobachter nennen den Prozess in dem Co-Gastgeberland der Fußball-Europameisterschaft politisch motiviert.

Auch am Tag nach der Absage eines Staatsbesuches von Bundespräsident Joachim Gauck machte die Bundesregierung unterdessen weiter Druck und forderte die ukrainische Führung zu schnellem Handeln im Fall Timoschenko auf. "Es kann hier kein Spiel auf Zeit geben von der ukrainischen Regierung", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert mit Blick auf den Gesundheitszustand der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenkos. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ weiter offen, ob sie zur EM in die Ukraine reisen werde. Auf NDR Info bekräftigte sie die Forderung nach einer Behandlung Timoschenkos in Deutschland. "Darum bemüht sich das Auswärtige Amt, und darum bemüht sich auch das Kanzleramt."

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag brachte einen Boykott der Fußball-EM durch Spitzenpolitiker ins Spiel. Sollte sich die Lage von Timoschenko nicht verbessern, müsse jeder überlegen, ob er eine Einladung annehme und so tue, als wäre nichts, sagte der CDU-Politiker Ruprecht Polenz in der ARD. Der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, forderte von Bundeskanzlerin Angela Merkel "Farbe bekennen" und bei einem Besuch in der Ukraine Julia Timoschenko im Gefängnis zu besuchen und sich nicht neben Janukowitsch auf eine Tribüne zu setzen. Einen totalen politischen Boykott der Ukraine während der Fußball-EM hält Beck jedoch für politisch unklug.

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Der Präsident des europäischen Fußballverbandes Uefa, Michel Platini, verteidigte die Vergabe der EM an die Ukraine. Er sagte der "Welt": "Als die EM 2007 vergeben wurde, war Julia Timoschenko gerade dabei, an die Regierungsspitze aufzusteigen."

Da das Land keine organisierte politische Gewalt kennt, wagte sich zunächst kaum jemand mit Hypothesen hervor. Einen Zusammenhang zur EM sehen Ermittler nicht. Das Parlament trat zu einer Sondersitzung zusammen.

Timoschenko, die aus Dnipropetrowsk stammt, befand sich am Freitag den achten Tag im Hungerstreik, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren. Vor einer Woche war sie unter Anwendung von Gewalt zur Untersuchung in ein Krankenhaus gebracht worden. Verurteilt wurde sie wegen angeblichen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft. Am Sonnabend soll sie zu einem zweiten Prozess in ein Gerichtsgebäude gebracht werden. Der Umgang mit der Opposition und die gezielt eingesetzte Justiz sind das Haupthindernis bei der Annäherung der Ukraine an die EU.

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Eine Lösung könnte sein, dass Timoschenko von ausländischen und damit unabhängigen Ärzten behandelt wird. "Seien Sie ein humanitären Werten verpflichteter Präsident und lassen Sie Frau Timoschenko ausreisen", appellierte Professor Karl Max Einhäupl, Chef der Berliner Klinik Charité, an den ukrainischen Staatschef Viktor Janukowitsch. "Wir haben erhebliche Zweifel, dass eine Therapie der Patientin in der Ukraine erfolgreich durchzuführen ist." Einhäupl hält es für notwendig, mit Kollegen binnen sieben Tagen in die Ukraine zu reisen und den akuten Zustand Timoschenkos erneut zu überprüfen. "Sie ist jetzt auch unsere Patientin", sagte Einhäupl. "Frau Timoschenko hat uns gebeten, ihre Behandlung zu übernehmen. Sie hat auf uns einen sehr verzweifelten Eindruck gemacht." Anfang des Jahres hatte sich die Familie Timoschenkos an die Charité gewandt und gebeten, eine Delegation des renommierten Krankenhauses solle in die Ukraine reisen. Im Februar hatten die ukrainischen Behörden erstmals die Untersuchung durch ausländische Mediziner zugelassen. Auf Kosten der Familie war Einhäupl mit seinem Kollegen Norbert Haas, Chef der Orthopädie, in die Ukraine gereist und hatte einen Bandscheibenvorfall diagnostiziert, der nicht behandelt worden war.

Obwohl die frühere Ministerpräsidentin seit ihrer Inhaftierung Anfang Oktober über starke Rückenschmerzen geklagt hatte, war erst drei Monate später ein Kernspin-Gutachten erstellt worden, das den Bandscheibenvorfall bestätigte. "Ob das Vorenthalten einer Therapie eine gezielte Maßnahme war oder mangelnde diagnostische Sicherheit, dazu kann ich mich nicht äußern", sagte Einhäupl. Aber auch nach der Diagnose habe Timoschenko keine optimale Therapie erhalten habe.

Vor zwei Wochen hatten Einhäupl und Haas die Patientin erneut besucht und festgestellt, dass der Bandscheibenvorfall chronisch geworden ist. Außerdem hatten sie die Klinik in Charkow besucht, die die ukrainischen Behörden für eine Therapie vorgesehen hatten. Timoschenko habe die Sorge geäußert, man könne ihr durch Injektionen Schaden zufügen, weshalb sie sich kein Blut abnehmen lasse.

Ein Gericht verurteilte Timoschenko im Oktober 2011 zu einer siebenjährigen Haftstrafe. Ihr Gesundheitszustand ist zum Politikum geworden. Dass die Regierung ihrer Ausreise zustimmt, gilt als unwahrscheinlich.

Mit Material von dpa