Der Fotograf Timo Vogt reiste unbemerkt nach Syrien in die Provinz Idlib. Er erlebte Gefechte, sah Tote und hatte Angst um sein Leben.

Idlib. Morgens um acht wird Timo Vogt aus dem Schlaf gerissen. "Komm, komm! Das musst du sehen", sagt sein Gastgeber. Vogt steht auf, schnappt sich seine Kamera und das Aufnahmegerät, die neben der Matratze liegen. Er steht vor der Tür, auf der Dorfstraße laufen Kinder zur Schule gegenüber. Sie singen, lachen, quasseln. Vogt drückt auf Play, nimmt das Lachen auf. Es sind fröhliche Aufnahmen.

Dann, plötzlich, Schüsse in der Ferne. Vogts Gerät läuft, nimmt auf, wie das Knattern der Kalaschnikows lauter wird. Panik, die Kinder kreischen, dann das dumpfe Knallen der Granaten. Es gibt keine Bilder für Vogts Kamera in diesem Moment, aber es gibt die Gewalt der Töne, das Kreischen und Knattern.

Weg, raus! Wer kann, rennt. Wer bleibt, bangt. Vogt flieht mit ein paar Rebellen, Oppositionellen und Zivilisten aus dem Dorf nahe der Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Die Armee des Herrschers Baschar al-Assad rückt vor in der Provinz, mit Panzern und Kampfhubschraubern. Vogt und die anderen fliehen in Autos und dann zu Fuß in die Hügel mit den Olivenhainen.

Eine Woche war der Fotograf Vogt in der Provinz Udlib unterwegs in Syrien, einem Land, aus dem uns vor allem verzerrte Internetvideos erreichen mit zerbombten Häusern, Armeefahrzeugen, Kämpfern mit Gewehren in der Hand und Tüchern um den Kopf. Und Bilder von Leichen, zerfetzt von den Granaten der Armee, andere mit durchgeschnittenen Kehlen. Anhänger Assads waren die Täter, sagt Vogt.

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Wer keine Informationen an Assads Geheimdienste preisgibt, riskiert sein Leben. Vogt hat die Opfer gesehen - gefesselt, gefoltert und mit Kopfschüssen getötet. Er hat das alles fotografiert. "Meine Kamera war mein Schutz in dieser Situation." Er schiebt sie zwischen sich und das Geschehen. Vogt hat das Grauen nicht an sich herangelassen. Keine Zeit für Tränen, keine Zeit für Wut. "Ich brauchte alle meine sieben Sinne, um selbst zu überleben."

32 Jahre ist Vogt alt, er war schon in Afghanistan, in den Palästinensergebieten in Israel, im Kaukasus. "Syrien hat alles übertroffen an Brutalität." Er hat Fotos auf seinen Chips, die er nicht auf seine Webseite gestellt hat. Zu krass. Manchmal, in diesen Tagen, als er wieder daheim ist in seinem Haus im Wendland, denkt er nur: Meine Güte, was habe ich gemacht, wo war ich da unterwegs? Geht's noch?!

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Über Freunde in der Türkei hatte Vogt Kontakt zu Oppositionellen in Syrien bekommen. Sie schmuggelten ihn über die Grenze, in Syrien ging es zu Fuß durch ein Tal, alles nachts, der Boden war lehmig vom Regen der letzten Tage. Vogt sah nur paar Meter weit, stolperte über Wurzeln in einem Wald, den sie durchqueren mussten. Es war Neumond, finster. Einmal marschierten sie durch einen Fluss, dann über ein Feld mit kratzigen Büschen. Vogt hatte Dornen in den Händen, seine Regenhose war zerrissen. Sie übernachteten im Freien, am nächsten Tag ging es weiter, in Autos, auf Treckern, für die etwa 40 Kilometer Luftlinie von der Grenze bis Idlib brauchten sie knapp zwei Tage.

Widerstand gegen Assad? "Den gibt es kaum", sagt Vogt. "In Syrien kämpfen nicht Soldaten gegen Soldaten." Die Anhänger der Freien Syrischen Armee (FSA) seien zu schwach, um Assads Armee zu besiegen. Ihre Waffen schmuggeln sie vor allem aus dem Irak ins Land, Sturmgewehre, Kleinkaliber. Gegen Panzer des Regimes. Heute koste eine geschmuggelte Kalaschnikow 1500 Dollar, früher waren es 200, sagt Vogt. Die Kämpfer können sich kaum organisieren. Das Handynetz funktioniere nicht, es gebe kaum Funkgeräte. Die Armee rückt weiter vor, marschiert in Dörfer ein, besetzt sie, mordet. "Es herrscht kein Bürgerkrieg, sondern ein Aufstand der Menschen gegen Assad." Sie organisieren Proteste und Aufmärsche. Friedlich, sagt Vogt. Bewaffnet ist nur die FSA. "Sie versuchen die friedlichen Proteste zu schützen mit Waffen gegen Assads Armee." Vogt hat in den sieben Tagen mit den Oppositionellen keine Menschen erlebt, die als Märtyrer für einen Heiligen Krieg gegen Assad sterben wollen. Sie kämpfen für eine Revolution. Vogt sagt: "Sie kämpfen aber auch um ihr Leben."

Es gibt diese wenigen Eindrücke aus dem Land eines Regimes, das sich abgeschottet hat. Es sind subjektive Blicke eines Fotografen auf die Menschen und die Gewalt, in der sie leben. Daneben gibt es Nachrichten, nüchtern, distanziert. Das sozialistische Venezuela von Präsident Hugo Chávez will trotz Sanktionen Treibstoff an Syrien liefern. Gut eine Woche nach der Besetzung durch syrische Soldaten kehren die Bewohner von Baba Amr amtlichen Medien zufolge in das Viertel der Stadt Homs zurück. Der von Rebellen gehaltene Stadtteil lag einen Monat lang im Artilleriefeuer der Armee, ehe er von den Aufständischen geräumt wurde.

In Foren der Protestbewegung wurden gestern Namen und Wohnorte vermeintlicher "Mörder", "Plünderer" und "Verräter" unter den Offizieren veröffentlicht. Gleichzeitig verbreiteten Oppositionelle ein Video, das angeblich alawitische Deserteure zeigt, die sich der aus Fahnenflüchtigen bestehenden Freien Syrischen Armee anschließen.