Europa verpflichtet sich auf Sondergipfel zu Disziplin und Hilfe für rezessionsgeplagte Staaten. Das größte Problem bleibt aber ungelöst.

Brüssel. Einen "Etikettenschwindel" machte DGB-Chef Michael Sommer in einer geschwinden Analyse des EU-Gipfels aus. Der Fiskalpakt, das greifbarste Ergebnis des Treffens, beantworte "überhaupt nicht die Frage, wie man zum Beispiel zu mehr Staatseinnahmen kommt". Striktes Sparen mache Staaten arm und handlungsunfähig. Die Linke unterstellte Mutwilligkeit: Nun werde ganz Europa in die Rezession getrieben. Dagegen sah kaum ein Politiker aus Union und FDP Anlass, die Bundeskanzlerin für die Verhandlungen zu rüffeln. Wenn in der Koalition Ruhe herrscht und die Befürworter staatlichen Kümmerns so weit ausholen, dann muss das Gipfelergebnis Angela Merkel als ein Erfolg vorkommen. Nach sieben Stunden Beratungen in Brüssel bilanzierte sie: "eine wirkliche Meisterleistung".

Keiner der Regierungschefs wollte diese spezielle Einschätzung öffentlich teilen. Kaum mehr als einen "hübschen Singvogel" nannte Italiens Premierminister Mario Monti den Pakt. Als "zumindest nicht mehr schädlich" bezeichnet ein Diplomat aus einem anderen EU-Land das Ergebnis. Glücklich sind sie trotzdem alle, loben den ganzen Gipfel als Erfolg. In weniger als zwei Monaten wurde der Vertrag, der die Zusammenarbeit in Europa auf neue Beine stellt, politisch entworfen, ausgearbeitet, in einer Arbeitsgruppe fünfmal angepasst und verabschiedet. Das immerhin ist Rekord.

Zudem reisten alle - sogar Großbritanniens Premier David Cameron - auch in der Sache zufrieden nach Hause. Der EU-Gipfel hatte für jeden etwas. Cameron brachte er das von ihm heftig eingeforderte Versprechen, den europäischen Binnenmarkt zu stärken und auszubauen. Den Ländern, die sich hinter Monti, dem neuen starken Mann, formieren, brachte er ein Paket an Maßnahmen, die für Wachstum und Beschäftigung sorgen sollen, die junge Menschen vier Monate nach Schulabschluss in Studium, Ausbildung oder Arbeit bringen wollen. Bundeswirtschaftsminister und FDP-Chef Philipp Rösler freute sich über die Beschlüsse: Es sei gut, dass auch wieder verstärkt das Thema EU-Wachstumsagenda in den Fokus gerückt sei, sagte er. Nur mit mehr Wachstum werde es gelingen, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken und zu sichern.

+++ EU-Gipfel: Der Pakt der 25 - ohne Großbritannien und Tschechien ++++

+++ Fiskalpakt ohne Briten und Tschechien gebilligt +++

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Der Bundesregierung, den Niederländern und den anderen stabilitätsorientierten, weil finanzstarken Ländern brachte der Gipfel die Gewissheit: Die Konjunkturmaßnahmen kosten nichts - oder sie sind schon bezahlt, weil EU-Mittel nur umgewidmet werden. Die Bundeskanzlerin musste also keinen neuen Scheck ausstellen, nicht mehr Geld für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) auf den Tisch legen oder gar ein neues Hilfspaket für Griechenland beschließen. So gesehen: ein günstiger Gipfel für Deutschland.

Stattdessen konnte Merkel immerhin 25 EU-Staaten vom Fiskalvertrag überzeugen, der künftig für solide Haushaltspolitik in Europa sorgen soll. Dafür hatte die Bundesregierung in den vergangenen Wochen seit Anfang Dezember vehement gekämpft. Angela Merkel nennt ihn einen "wichtigen Schritt zu einer Stabilitätsunion". So schreibt Europa fest, dass die Währungsunion ohne Disziplin aller ihrer Teilnehmer nicht lebensfähig ist. So verpflichten sich die Vertragspartner - das sind alle EU-Länder außer Großbritannien und Tschechien - darauf, ihr eigenes Budget in Ordnung zu halten.

Es gibt Sanktionen und ein neues Druckmittel: Geld aus dem dauerhaften Rettungsschirm ESM bekommt ein Land nur, wenn es den Fiskalpakt ratifiziert. Das kann in Ländern helfen, deren Parlament und Öffentlichkeit dem Sparen reserviert begegnen. "Wir haben ja alle unsere Parlamente zu Hause", wie Merkel nach den Beratungen anmerkte. Entsprechend zufrieden ist das deutsche Regierungslager. Die Vereinbarungen vom Gipfel seien "ein gewaltiger Schritt in Richtung stärkerer Wettbewerbsfähigkeit und durchgreifender Haushaltskonsolidierung in der Euro-Zone", sagte Michael Meister (CDU), stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, der "Welt".

Und dennoch ist der Fiskalpakt nicht so ehrgeizig wie auf dem dramatischen Gipfel Anfang Dezember versprochen. So fehlt die Verpflichtung, eine Schuldenbremse in die nationalen Verfassungen aufzunehmen. Eine irgendwie "bindende Kraft" reicht. Und: Stellt die EU-Kommission fest, dass ein Land dieser Verpflichtung nicht nachkommt, kann sie nicht selbst vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Die Mitgliedsländer des Vertrags wollen in den kommenden Monaten allerdings ein Verfahren ausarbeiten, das verpflichtend zu einer Klage führt: Ein Staat wird jeweils den Buhmann geben müssen.

Das trübt die Freude am stabilen neuen Europa. Einen Hinweis darauf, warum sie dennoch nicht traurig sein mag über die Verwässerung, gab die Bundeskanzlerin. Sie sagte, der Vertrag sei wichtig für Beobachter von außerhalb Europas - für Investoren also, die ihre Zurückhaltung bei Staatsanleihen möglichst aufgeben sollen. Hohe EU-Beamte sehen den Pakt als Teil einer Strategie, die rasch umschrieben so aussieht: Das Wachstumspaket solle die Krisenländer besänftigen und dem Drängen des Internationalen Währungsfonds (IWF) nachgeben, der Konjunkturmaßnahmen fordert.

Der Fiskalpakt sei ein Symbol, aber ein wichtiges, um in den kommenden Wochen das Vertrauen der Finanzmärkte gegenüber Europa wiederherzustellen. Dazu gehöre als nächster Schritt vor allem: eine Lösung für Griechenland zu finden. Athen bewegt sich wieder einmal und immer noch rasant auf den Bankrott zu.

Seien die Verhandlungen mit den privaten Gläubigern Athens geschafft und die Frage damit erst einmal gelöst, habe man Argumente in der Hand, den IWF zur Erhöhung seiner Mittel zu bewegen. Und schließlich: Sei das einmal geschafft, so das Kalkül in einigen europäischen Hauptstädten, könne Deutschland sich nicht mehr widersetzen und müsse einer Erhöhung der Mittel des Rettungsschirmes ESM zustimmen. Der Punkt steht längst auf der Tagesordnung für den nächsten regulären EU-Gipfel am 1. März - "in nicht einmal fünf Wochen", wie Ratspräsident Herman Van Rompuy in Erinnerung rief.

Eine Wenn-dann-Argumentation mit vielen unsicheren Konditionen. Aber weder Van Rompuy noch Merkel wollten Anwürfe gelten lassen, die wichtigste Frage nicht behandelt zu haben: Es liege nicht an Deutschland, dass Griechenland nicht auf der Tagesordnung gestanden habe, sondern an der Athener Regierung, die nichts anzubieten habe - keine Fortschritte und auch keine Einigung mit ihren Gläubigern. Nach dem Gipfel wurde der griechische Ministerpräsident Lukas Papademos bei einem nächtlichen Sondertreffen ins Gebet genommen. Er hoffe, dass "noch in dieser Woche" eine Einigung über den Schuldenschnitt erzielt werde, sagte Papademos. Diese eine Woche aber dauert bei den Griechen bereits seit Anfang des Monats.