In Budapest wächst Widerstand gegen die neue Verfassung. Der Premier Orban hat Ungarn zu seinen Gunsten radikal umgekrempelt.

Budapest. Drinnen im festlichen Saal priesen die Würdenträger mit weihevollen Worten Ungarns neue Verfassung. Draußen vor den Toren der Budapester Staatsoper sperrte ein Großaufgebot von Polizisten die Volksvertreter und ihre Fest-Claqueure in den voll besetzten Logen großräumig von ihren Kritikern ab. "Es ist genug, es lebe die Republik!", skandierten unter der Weihnachtsbeleuchtung der Budapester Innenstadt am Montagabend die Demonstranten. Denn die ist seit Jahresbeginn offiziell abgeschafft. Die bisherigen Namenstafeln der "Republik Ungarn" wurden an allen Grenzübergängen am 1. Januar abmontiert und durch neue ersetzt: Laut der neuen Verfassung nennt sich der Staat künftig nur noch "Ungarn".

Doch es sind weniger formale als inhaltliche Gründe, die immer mehr Ungarn an der von der rechtspopulistischen Regierung praktisch im Alleingang konzipierten und im Hauruckverfahren durch das Parlament gepeitschten Verfassung zweifeln lassen. In dem Donau-Staat wächst der Widerstand gegen den faktischen Einparteistaat und seine neue Verfassung. Vor Jahresfrist waren es zunächst nur wenige Hundert Jugendliche, die gegen Ungarns umstrittenes Mediengesetz und für die Pressefreiheit demonstrierten. Nun demonstrierten zu Wochenbeginn Zehntausende gegen das neue Grundgesetz, das die rechtspopulistische Fidesz-Partei von Premier Viktor Orban im letzten Frühjahr in Windeseile hatte absegnen lassen.

Eine "Revolution" hatte der damalige Oppositionschef vor den Parlamentswahlen im April 2010 versprochen - eine Verheißung, die der Bauernsohn aus Szekesfehervar nach seinem Wahlsieg in atemberaubendem Tempo erfüllen sollte. Dank der Eigenheiten des ungarischen Wahlrechts fielen Fidesz mit 53 Prozent der Sitze über zwei Drittel der Parlamentssitze zu. Die Verfassungsmehrheit machte sich Orban bislang zu nachhaltiger Zementierung seiner Macht zunutze: Mit der systematischen Aushöhlung der Gewaltenteilung hat er sich und der Fidesz-Gefolgschaft mit der neuen Verfassung und einer Reihe flankierender Gesetze eine ungekannte Machtfülle gesichert - weit über die Legislaturperiode und seiner etwaigen Abwahl hinaus.

Gegen ein autoritäres Regime hatte der einstige Dissident Orban einst gekämpft, doch scheint er nun selbst den Verlockungen eines Regierens ohne Widerspruch zu erliegen. Die Kompetenzen des Verfassungsgerichts hat er merklich beschneiden lassen. Ohne Zweidrittelmehrheiten sind für künftige Regierungen die von Fidesz beschlossenen Gesetze kaum mehr rückgängig zu machen. Die von Fidesz auf die Schlüsselpositionen im Staat beförderten Würdenträger sind durch die drastische Verlängerung ihrer Amtszeiten selbst bis zur übernächsten Legislaturperiode auf ihren Posten "einbetoniert".

Die Unabhängigkeit der Nationalbank ist durch die Verabschiedung eines neuen Bankengesetzes kurz vor Jahreswechsel merklich eingeschränkt. An diesem Punkt hat sich gestern die EU-Kommission eingeschaltet. Sie werde das nicht hinnehmen und bereits in den kommenden Tagen über ein mögliches Gerichtsverfahren gegen Ungarn entscheiden, verlautete aus Kommissionskreisen. Seit Mitte Dezember habe Kommissionschef José Manuel Barroso Orban in "mehreren Briefen" aufgefordert, die Bedenken gegen die Reform auszuräumen, sagte ein Sprecher.

Das neue Gesetz stellt dem amtierenden Notenbankchef einen machtvollen Stellvertreter aus Orbans Lager zur Seite. Zudem kann die Regierung einen Notenbankrat mit einer Amtszeit von neun Jahren quasi einbetonieren. Derzeit würden die Gesetzestexte analysiert, hieß es in Brüssel. Am Mittwoch kommender Woche treffen sich die EU-Kommissare dann erstmals nach den Weihnachtsferien wieder. Dann könnte über die Einleitung eines Verfahrens beim Europäischen Gerichtshof entschieden werden.

Neben dem Verfahren greift Brüssel zu einem anderen, schmerzhafteren Druckmittel: Orban hat bei der EU und beim Internationalen Währungsfonds ein Rettungspaket beantragt, um nicht in die Pleite zu rutschen. Doch "in enger Abstimmung" weigern sich sowohl der IWF als auch die EU derzeit, die Verhandlungen zu starten, bevor die Unabhängigkeit der Zentralbank nichtsichergestellt ist.

Die EU hat außerdem Bedenken, dass die Unabhängigkeit der Richter beschnitten und der Datenschutz ausgehöhlt werden. Die staatlichen Sender hat Fidesz seit seinem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen im April 2010 längst gleichgeschaltet. Den privaten Medien sucht Budapest mit einem schon vor Jahresfrist verabschiedeten Mediengesetz die Zähne zu ziehen: Für das neue Jahr wurde dem Oppositionssender "Klubradio" die Erneuerung der Sendelizenz verweigert. Die schwache Opposition hat im neuen Jahr noch weniger zu melden als zuvor: Bei Gesetzesverabschiedungen im Eilverfahren ist ihre Redezeit nun auf 15 Minuten pro Partei beschränkt.

Zwar sind die Umfragewerte für Orban mittlerweile merklich gefallen, doch die Opposition weiß davon kaum zu profitieren: Wohlweislich hatten die Organisatoren der Großdemonstration zu Wochenbeginn keine Parlamentarier ans Mikrofon gelassen. Parteienverdrossenheit und soziale Spannungen nehmen zu. Gleichzeitig schwindet im polarisierten Vielvölkerstaat in Zeiten der Krise die Toleranz - und wächst die Fremdenfeindlichkeit. Uniformierte Bürgerwehren der rechtsextremen Jobbik-Parteien marschieren nach lahmlendigen Verboten unter ständig wechselnden Namen durchs Land. Die Minderheit der Roma, aber auch die jüdische Gemeinschaft klagen seit Monaten über zunehmende Anfeindungen und selbst tätliche Übergriffe.

Als "Judenschweine" beschimpften in der Budapester Innenstadt aufmarschierte Neonazis die Demonstranten. "Orban führt das Land ins Chaos", sagt auf der Rednerbühne Laszlo Majtenyi, der frühere Chef der von Fidesz gleichgeschalteten Medienbehörde. Der Premier habe sich mit der Ablegung seines Amtseids eigentlich zum Schutz der Verfassung verpflichtet: "Nun hat er sie über Bord geworfen."