Auf Griechenland oder Italien kann die Europäische Union vorerst nicht bauen. Mit Wachstum und Innovation glänzen die Länder im Ostseeraum.

Hamburg. Es ist eine Verbindung der Superlative. Die Öresund-Brücke, die bei der schwedischen Stadt Malmö die Ostsee quert, misst rund acht Kilometer Länge. Fortgeführt wird sie in einem rund vier Kilometer langen Tunnel, der bis zur dänischen Hauptstadt Kopenhagen reicht. Umgerechnet rund 2,5 Milliarden Euro kostete das Großprojekt, das im Jahr 2000 eingeweiht wurde, inklusive aller Anbindungen für Bahn, Straße und den Kopenhagener Flughafen. Die verbesserte Mobilität trug maßgeblich dazu bei, dass die Region des Öresunds zu einem Zentrum der europäischen Pharma- und Biotechnologie-Industrie aufstieg - ein "Medicon Valley", wie die Menschen vor Ort diese Erfolgsgeschichte nennen, analog zum kalifornischen Silicon Valley, dem wichtigsten Zentrum der Informationstechnologie.

Eine Erfolgsgeschichte, die stark an jene der Hanse im Mittelalter erinnert

Der nächste Streich ist längst geplant, und dessen Dimensionen wirken noch weitaus gewaltiger. 19 Kilometer lang soll die Querung des Fehmarnbelts werden, von Puttgarden bis nach Rødby auf der dänischen Insel Lolland, sie wird die künftig längste Brücke Europas sein. Acht Jahre Bauzeit, von 2011 bis 2019, sind dafür veranschlagt und 4,4 Milliarden Euro Kosten. Mit diesen beiden Brücken sowie mit der Querung über den Großen Belt schufen und schaffen die Dänen ihrer Hauptinsel Seeland drei wichtige Anbindungen ans Festland. Doch die Bauwerke bedeuten für Nordeuropa weit mehr als das: Sie sind ein Brückenschlag für den ökonomischen Fortschritt des Ostseeraums.

Von einer "Neuen Hanse" schwärmte man in den Anrainerstaaten der Ostsee nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Von einer Wiedergeburt jenes legendären Kaufmanns- und Städtebündnisses, das Nordeuropa vom 12. bis zum 17. Jahrhundert Wohlstand verschafft hatte, mit großen Handelsstädten wie Lübeck, Hamburg, Wismar und Stralsund, wie Reval (Tallinn), Riga oder Danzig. Alle Anrainerstaaten der Ostsee mit Ausnahme Russlands sind inzwischen Mitglied der Europäischen Union - und der Traum von einer neuen Glanzzeit des Ostseeraums lebt fort: "Die Hanse war im Grunde nichts anderes als der frühe Vorläufer der Europäischen Union, wenngleich im Prinzip ohne festes Regelwerk", sagt Jürgen Hogeforster, der Vorsitzende des Hanse-Parlaments, einer Vereinigung von 45 Handelskammern und Verbänden aus allen Ostseestaaten sowie Weißrusslands mit Sitz in Hamburg. "Der Ostseeraum hat alles Potenzial, um wieder an die Hanse-Zeit anzuknüpfen und zu einem der stärksten Wirtschaftsräume der Welt zu werden", schwärmt der frühere Hauptgeschäftsführer der Hamburger Handelskammer. "Wir sehen den Ostseeraum als einen Gegenpol, einen Gegenentwurf zum Mittelmeerraum."

Europas Wiege steht am Mittelmeer

Doch genau dort, wo die wissenschaftlichen, die kulturellen und die ökonomischen Wurzeln für die späteren europäischen Ideen gelegt wurden, genau dort fault Europa heute an seinen Rändern vor sich hin. Europa ist ein griechisches Wort, und kein anderer der mittlerweile 27 Mitgliedstaaten der EU offenbarte in der Wirtschaftskrise derart gravierende Schwächen - eine völlige Überschuldung der Staatsfinanzen, eine marode öffentliche Verwaltung, ökonomische Ineffizienz und Abhängigkeit von EU-Fördermitteln. Schon vor der Griechenland-Krise war zudem deutlich geworden, dass der viel gelobte Boom der spanischen Wirtschaft im Wesentlichen auf einer Spekulationsblase am Immobilienmarkt beruht hatte, die längst geplatzt ist. Auch andere südeuropäische Regionen wie Süditalien oder Portugal verzeichnen seit Jahren - und zwar ohne die Lasten einer Wirtschaftskrise - kaum oder keinen ökonomischen Fortschritt.

Die jüngste Krise hat zwar auch die Ostseestaaten mit voller Wucht getroffen. Litauen etwa verlor im vergangenen Jahr gegenüber 2008 fast ein Fünftel seiner Wirtschaftsleistung. Lettland musste mit Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU vor dem Staatsbankrott gerettet werden. Aber in den baltischen Staaten mutet die Politik den Menschen harte Einschnitte zu - so, wie es auch in Südeuropa selbstverständlich sein sollte. So pragmatisch, wie man in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs an den Wiederaufbau ging, setzen die Regierungen dort heutzutage Reformen gegen die Krise um. "Es gibt sicher Mentalitätsunterschiede", sagte der litauische Ministerpräsident Andrius Kubilius kürzlich der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Die litauische Bevölkerung ist leidensfähig, weil sie viele Jahre die sowjetische Besatzung ertragen musste, und sie ist immer noch sehr stolz, zur EU zu gehören. In vielen südlichen EU-Staaten hält man es dagegen für selbstverständlich, vom Staat und von der EU versorgt zu werden. Die Maßstäbe darüber, was man der Bevölkerung zumuten kann, sind innerhalb und außerhalb des Euro-Raums sehr unterschiedlich."

"Kreative Buchhaltung" in Griechenland

In die gleiche Kerbe haut der estnische Unternehmer Jaan Puusaag mit Blick auf die "kreative Buchhaltung" in der griechischen Finanzverwaltung. Griechenland hatte sich den Zugang zum Euro mit frisierten volkwirtschaftlichen Bilanzen erschwindelt. "Estland ist ein nördliches Land", sagte Puusaag. "Wir mögen Regeln und tricksen nicht." Das Land will 2011 den Euro einführen und erfüllt dafür bislang alle Kriterien. Griechenlands Finanzmisere könnte Estlands Beitritt zur Euro-Zone allerdings verzögern, da die EU zunächst grundlegende Probleme lösen muss.

Der Süden Europas fällt seit dem Ende des Kalten Krieges vor allem durch Verfall auf. In Italien wechselte über Jahrzehnte in kurzer Folge eine Regierung die andere ab. Der Einzige, der etwas Stabilität in das System brachte, ist der ehemalige Barsänger Silvio Berlusconi, der das Land als Regierungschef allerdings wie ein Operettenkönig führt. In Griechenland wechseln sich die Clans der Papandreous und der Karamanlis beim Regieren im Prinzip gegenseitig ab - Machtaufteilung der besonderen Art. Und ist Südeuropa nicht längst zu einer Art Synonym für politischen Verfall und mafiöse Strukturen, für wilde Müllhalden und von Brandstiftern geschändete Wälder, für Subventionsbetrug und Steuerverweigerung geworden?

Der Ostseeraum gedeiht und wächst

Rund um die Ostsee hingegen gediehen die Anrainerstaaten. Finnland rückte vom Agrar- und Forstland in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Standort für Hochtechnologie-Produkte auf, angeführt vom früheren Gummistiefel-Hersteller Nokia, heute der weltgrößte Produzent von Mobiltelefonen. Die skandinavischen Staaten gingen bei der Einführung moderner Verwaltungen ebenso voran wie bei der Umsetzung von Schulreformen. Die Ernte dafür fuhren sie nicht zuletzt in den "PISA"-Studien ein.

Die ehemaligen Ostblockstaaten, die Mitglieder der Europäischen Union geworden sind, suchten und suchen mit Fleiß und Disziplin den Anschluss. Estland etwa baute rund um den EU-Beitritt im Jahr 2004 herum eine der modernsten elektronischen Verwaltungen Europas auf. Polen wiederum erzielte - auch dank konsequent umgesetzter Wirtschaftsreformen - im vergangenen Jahr während der Krise als einziges EU-Mitgliedsland ein Wirtschaftswachstum, es waren rund 1,7 Prozent gegenüber 2008.

"Der Ostseeraum hat enormes wirtschaftliches und intellektuelles Potenzial", sagt Corinna Nienstedt, Leiterin des Geschäftsbereichs International bei der Hamburger Handelskammer. "Vom Jahr 2011 an wird auch die Freizügigkeit für die Arbeitnehmer in der Region wirksam. Dann wird der Ostseeraum zum Integrator des alten Europa."

Rund 100 Millionen Menschen in der Region, von etwa 6,5 Milliarden Erdbewohnern, erwirtschafteten vor der Weltwirtschaftskrise fast zehn Prozent des globalen Bruttosozialprodukts. Bevor die Krise die Wirtschaft erschütterte, waren Deutschlands Exporte in den Ostseeraum größer als jene in die USA und nach Japan zusammen.

Top-Forschungsinstitute aus Nordeuropa

Aber nicht nur in ökonomischer, auch in kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht ist der Ostseeraum eine ungemein gehaltvolle Region, ein Forschungszentrum von globalem Rang. Einige der ältesten Universitäten Europas liegen hier, etwa Rostock, Greifswald, Uppsala oder Kopenhagen. Daraus ist eine Vielzahl von Instituten insbesondere in den Disziplinen des Klimaschutzes und der Meeresforschung hervorgegangen. "Top-Forschungsinstitute für Energie- und Umwelttechnik oder für die Gesundheitswirtschaft sind eher in Nordeuropa angesiedelt als im Süden", sagte Jürgen Hogeforster vom Hanse-Parlament. "Das gilt auch für das Themengebiet der Wasserversorgung, obwohl der Norden keinen Wassermangel leidet, sondern die wasserreichste Region Europas ist."

Noch haben die osteuropäischen Staaten nicht die wirtschaftliche Leistungskraft und den Wohlstand der meisten westeuropäischen Länder erreicht. Doch in den nur 20 Jahren seit dem Ende der Sowjetunion und der Befreiung ihrer Satellitenstaaten ist insbesondere rund um die Ostsee herum vieles gelungen und gewachsen. Die baltischen Staaten etwa heben sich mit ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft deutlich von den meisten Balkanstaaten ab, aber auch von Ländern wie der Türkei, von Bulgarien oder Rumänien. Die skandinavischen Staaten und Finnland wiederum liegen beim Vergleich der Kaufkraft pro Kopf der Bevölkerung noch vor Deutschland in der Spitzengruppe der europäischen Staaten.

Wenn der Traum von einer "Neuen Hanse" Wirklichkeit werden soll, müssen in der Region allerdings noch viel Zeit und Geld investiert werden. Bei der Europäischen Kommission in Brüssel weiß man dies. Von 2007 bis 2013 sollen in den Ostseeraum mehr als 50 Milliarden Euro aus Töpfen der EU fließen. Der größte Teil davon ist für die Modernisierung der Infrastruktur, von Straßen, Schienen und Kommunikationsnetzen vorgesehen. Ein zentrales Thema ist ebenso die ökologische Sanierung der schwer belasteten Ostsee und eine verbesserte Sicherheit für den stark wachsenden Schiffs-, besonders den Tankerverkehr.

Zusammengehörigkeitsgefühl weiter stärken

Mindestens so wichtig wie Geld, vielleicht noch wichtiger ist allerdings der kulturelle und politische Enthusiasmus der Menschen in der Region. "Es gibt im Ostseeraum ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit", sagt Corinna Nienstedt von der Handelskammer Hamburg. "Aber die Entwicklung der Region muss politisch noch viel intensiver flankiert werden als bisher."

Hier wiederum sind die Anrainer des Mittelmeeres denen der Ostsee einen wichtigen Schritt voraus. Sie gründeten 2008 eine "Union für das Mittelmeer", die mittlerweile ihre Arbeit aufgenommen hat. Vorangetrieben hatte dieses Projekt vor allem der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Die Mittelmeerunion hat 43 Mitgliedstaaten, unter anderem alle EU-Mitglieder, aber auch die afrikanischen und die arabischen Länder der Region. Es geht um handfeste Ziele wie den Aufbau gemeinsamer Verkehrs-, Bildungs- und Kommunikationsstrukturen, aber auch um die bessere Entlastung des Mittelmeeres von den massiven Schadstoffeinträgen seiner Anwohner.

Die jüngste Wirtschaftskrise scheint fast überwunden, die Perspektiven des Ostseeraums scheinen besser denn je. Es wird wieder Zeit, Pioniergeist zu entfalten. Der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau brachte dies in einer Rede über die Hanse auf den Punkt: "Die Zeit der Hanse ist vorbei, weil sie ihrer Zeit so weit voraus war", sagte er über den historischen Bund. "Doch die Idee der Hanse lebt - genau aus diesem Grund."