Der amerikanische Diplomat Karl W. Eikenberry stellte sich gegen die Afghanistan-Strategie der Regierung Obama. Jetzt sieht er es anders.

Hamburg/Washington. Es ist unsicher, ob jener amerikanische Regierungsbeamte, der die "New York Times" mit zwei mehrseitigen und bis dahin geheimen Telegrammen versorgte, noch mit einer glänzenden Karriere rechnen kann. Jedenfalls begründete er die Maßnahme damit, dass diese Telegramme zu den bedeutendsten Dokumenten gehören, die im Zuge der jüngsten Debatte um die richtige Afghanistan-Strategie verfertigt wurden. Und damit hat der Beamte völlig recht.

Die beiden jetzt von der NYT veröffentlichten Schriftstücke waren im November vom amerikanischen Botschafter in Kabul, Karl W. Eikenberry, an die Regierung von Präsident Barack Obama geschickt worden. Sie hatten einen höchst brisanten Inhalt: Zum einen erklärt Eikenberry darin den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai zu einem völlig untauglichen Partner bei der Entwicklung Afghanistans. Zum anderen aber räumt er darin gründlich mit der Strategie des amerikanischen Afghanistan-Kommandeurs Stanley McChrystal auf - jener Strategie der massiven Truppenaufstockung also, die nun die Wende am Hindukusch bringen soll. Die beiden Telegramme, so schrieb die "New York Times", hätten zu erheblichen Spannungen zwischen Diplomaten und hohen Militärs in den USA geführt. Offenbar übte die US-Regierung einigen Druck aus; Eikenberry erklärte jedenfalls inzwischen knapp, er unterstütze die Verstärkung nun.

Dazu muss man wissen, dass Karl W. Eikenberry nicht irgendein Diplomat ist, der seinen Posten erhielt, weil er die Demokratische Partei im Wahlkampf unterstützt hat. Eikenberry ist ein ehemaliger Generalleutnant der US-Armee, der zweieinhalb Jahre lang in Afghanistan diente, davon achtzehn Monate als Oberkommandeur der US-Truppen. Der Infanterist mit Ranger-Ausbildung hat einen Mastergrad der Harvard-Universität in Ostasiatischen Studien und einen weiteren von Stanford in Politikwissenschaft. Eikenberry hat in Hongkong studiert, hat ein Dolmetscherdiplom des britischen Verteidigungsministeriums in Mandarin-Chinesisch und einen Abschluss der Nanjing-Universität in chinesischer Geschichte.

Eikenberry warnt in den Telegrammen, dass eine massive Truppenaufstockung nicht nur "astronomische Summen" verschlingen, sondern am Ende die Abhängigkeit der Afghanen von den USA nur noch verstärken werde. Die Truppenverstärkung "wird den Tag, an dem die Afghanen übernehmen sollen, nur hinausschieben, und es wird es schwierig, wenn nicht unmöglich machen, unsere Leute in einem vernünftigen Zeitrahmen nach Hause zu holen", schrieb der Botschafter und fügte hinzu, eine "verstärkte amerikanische und ausländische Rolle bezüglich Sicherheit und Verwaltung" des Landes werde die Abhängigkeit der Afghanen nur weiter erhöhen. Mehrfach warnte Eikenberry die US-Regierung, eine Verstärkung zu überstürzen, ohne zuvor Studien anzustellen. Dazu regte der frühere General die Schaffung eines überparteilichen Expertenrates an, um die "AfPak"-Strategie für Afghanistan und Pakistan zu untersuchen. Der Vorschlag wurde abgelehnt.

Eikenberry schlug vor, eine vergleichsweise kleine US-Streitmacht solle sich auf die Sicherung von Bevölkerungszentren und die Ausbildung der afghanischen Armee konzentrieren. Eine massive Truppenverstärkung hingegen, wie sie General McChrystal durchgesetzt hat, werde nur dazu führen, dass "wir hier noch tiefer engagiert sein werden". Es werde dann keine Möglichkeit mehr für die US-Truppen geben, sich zurückzuziehen, ohne das Land ins Chaos zu stürzen. Präsident Karsai sei im Übrigen kein adäquater strategischer Partner, wie ihn die neue Afghanistan-Strategie als notwendig voraussetze. Karsai scheue sich, Verantwortung zu übernehmen und sei nur daran interessiert, die USA in einen unendlichen Krieg hineinzuziehen. Zwei Tage vor Beginn der Afghanistan-Konferenz in London blieb die Lage im Land gestern gespannt. Vor dem US-Stützpunkt Camp Phoenix in Kabul sprengte sich ein Taliban-Selbstmordattentäter mit seinem Auto in die Luft. 14 Menschen wurden verletzt. In der ostafghanischen Provinz Kunar griffen Nato-Kampfjets eine Gruppe von Aufständischen an. Bis zu zehn Menschen starben nach Militärangaben dabei. Und in der Provinz Helmand en des Landes wurden vier afghanische Polizisten von Unbekannten getötet.