Erst ein Drittel der Hamas-Raketen ist zerstört - und die Radikal-Islamisten bemühen sich um weiter reichende Flugkörper.

Hamburg. "Jede militärische Operation beinhaltet Täuschung. Selbst wenn du fähig bist, erscheine unfähig. Selbst wenn du tätig bist, erscheine untätig." Der chinesische General Sun Tsu gilt als Vater der Strategie. Die Ratschläge zur Kriegskunst, die "Meister Sun" vor 2500 Jahren formulierte, werden von klugen Feldherren bis heute befolgt. Zum Beispiel von Ehud Barak.

Monatelang erschien der israelische Verteidigungsminister als hilfloser Zauderer, der nicht auf die ständigen Raketenangriffe der Hamas auf Israel zu reagieren vermochte. Wer eine Militäraktion im Gazastreifen forderte, wurde von Barak sogar gerügt. Was außer einer Handvoll Eingeweihter niemand wusste: Der hoch dekorierte Kriegsheld hat bereits vor mehr als einem halben Jahr die Operation "Gegossenes Blei" detailliert planen lassen. Hunderte Ziele im Gazastreifen wurden ausgekundschaftet, ihre Koordinaten in die Bombenzielplanung eingetragen. Am 18. Dezember traf Barak mit Ministerpräsident Ehud Olmert zusammen, um die Aktion grundsätzlich abzusegnen. Danach wurde das Kabinett fünf Stunden lang mit der Planung vertraut gemacht. Wissend, dass der Angriff am 27. Dezember starten würde, erklärte Barak, erst auf einer Kabinettssitzung am 28. Dezember würde die Regierung über ihr weiteres Vorgehen entscheiden. Die gelungene Kriegslist erklärt die hohe Opferzahl der ersten Angriffswelle - die Hamas wurde vollständig überrascht.

Auch gestern setzte die israelische Luftwaffe ihre Angriffe fort, bemühte sich aber mit einer neuen Taktik, zivile Verluste zu minimieren. Einigen Angriffen gingen telefonische Warnungen oder der Abwurf von Schockbomben ohne Sprengwirkung voraus.

Israel verfolgt mit den Luftangriffen ein militärisches und ein politisches Ziel. Militärisch soll die Befehlsstruktur der Hamas getroffen werden, ihre Waffenlager und -werkstätten, vor allem bezüglich der Kassam-, Grad- und Fadschr-Raketen, ferner die Trainingslager. Israelische Militärexperten schätzen, dass erst ein Drittel der Hamas-Raketen bislang zerstört wurde; mehr als 2000 sollen noch in den Arsenalen liegen. Es gibt Hinweise, dass sich die Hamas im Iran um den Erwerb von Fadschr-5-Raketen bemüht. Sie haben eine Reichweite von 75 Kilometern - damit wären auch Großstädte wie Tel Aviv gefährdet. Und: die Atomstadt Dimona mit ihrem Reaktor, wo vermutlich auch israelische Nuklearsprengköpfe lagern.

Mit der Zerstörung von Regierungsgebäuden, Polizeistationen, Universitäten und logistischen Einrichtungen soll die politische Führungsfähigkeit der Hamas zerschlagen werden. Israel will verhindern, dass sich die Hamas in eine schlagkräftige Organisation wie die libanesische Hisbollah verwandelt, die es verstanden hat, die Qualitäten einer Guerillatruppe mit der einer regulären Armee in brandgefährlicher Weise zu kombinieren.

Verlöre die Hamas die Führungsfähigkeit und damit die Kontrolle über den Gazastreifen, könnte ein Chaos entstehen, dessen Bewältigung die Kräfte der Hamas lange binden würde.

Ehud Barak weiß sehr wohl, dass er die Hamas militärisch nicht vernichten kann aber er kann sie möglicherweise so stark schwächen, dass sie gezwungen ist, einen Waffenstillstand zu Israels Bedingungen einzugehen.

Ordnungspolitisch spielt die Hamas-Polizei eine entscheidende Rolle im Gazastreifen; sie wurde durch die Luftangriffe bereits stark beeinträchtigt. Das gilt jedoch nicht für die zum Teil gut eingebunkerte militärische Struktur der Kassam-Brigaden.

Je länger die Luftangriffe andauern, desto stärker wird der Druck auf Jerusalem, sie zu beenden - vor allem aufgrund der steigenden Zahl ziviler Opfer. Die Hamas missbraucht Moscheen als Waffenlager und Operationszentren und feuert ihre Raketen aus Wohngegenden ab. Israel hat keine andere Wahl, als auch diese Ziele anzugreifen.

Um die Hamas militärisch jedoch entscheidend zu schwächen, wäre eine Bodenoffensive unumgänglich. Hier lauern jedoch die größten Gefahren für die Zahal, die israelische Armee. Häuserkampf ist die schwierigste und verlustreichste Kampfart, die zudem Guerillataktiken begünstigt und den Einsatz von Panzern nur sehr begrenzt zulässt. Zudem ist dafür ein Trümmergelände, wie es Luftangriffe hinterlassen, das ideale Terrain.

Die Israelis müssen damit rechnen, hohe Verluste durch Sprengfallen, Minen und Hinterhalte zu erleiden. In jedem Kellerloch, hinter jedem Schutthaufen kann ein Hamas- oder Dschihad-Kämpfer mit einem Scharfschützengewehr oder einer RPG-7-Panzerfaust hocken. Die Hamas soll Tunnel und Autowracks am Wegrand mit Sprengstoff gefüllt haben. Der Auftrag für die Bodentruppen dürfte also lauten: rasch hinein, so hart wie möglich zuschlagen und rasch wieder hinaus. Doch der beste Operationsplan, so lautet eine alte Soldatenweisheit, wird oft schon in den ersten Stunden eines Krieges obsolet.