Scholl-Latour: Der Nahost-Experte analysiert exklusiv im Abendblatt: Die Kurden wittern Verrat, und der Zorn der Schiiten könnte in Kürze explodieren, wenn sich die USA weiterhin als Besatzer gerieren.

Allmählich entsteht in Bagdad der Eindruck, die amerikanischen Besatzer seien in die Situation von Belagerten geraten. Es ist nicht die Rede davon, dass ein GI sich in eine Cafestube begibt oder sich von seiner Waffe, seinem Helm und seiner kugelsicheren Weste trennt. Im Übrigen sind sämtliche offiziellen Gebäude durch gewaltige Betonmauern abgeschirmt. Der amerikanische Botschafter Paul Bremer, der in Wirklichkeit die Funktion eines Pro-Konsuls ausübt, hat sich in den zentralen Palast Saddam Husseins zurückgezogen. Aber dessen aufwendiges Sicherheitssystem reichte ihm bei weitem nicht. Heute ist diese Residenz zu einer wahren Festung ausgebaut. Laut offiziellen Schätzungen finden etwa 30 Anschläge pro Tag gegen Einrichtungen der "Koalition" statt. Nur die wenigsten davon fordern Opfer, aber die tödliche Bedrohung ist allgegenwärtig. Die Betonmauern, die inzwischen ganz Bagdad verunstalten, bieten zwar relativen Schutz gegen Selbstmordattentate von Autofahrern, die ihre Fahrzeuge mit Sprengstoff gefüllt haben. Aber seit dem Anschlag auf das Hotel Raschid, das fast so gut geschützt war wie das Hauptquartier, müssen die amerikanischen Stäbe auch mit Raketenbeschuss rechnen. Granatwerfer sind längst im Einsatz gewesen. Auf meiner Fahrt nach Kufa, das neben der heiligen Stadt Nadschaf gelegen ist, wurde ich Augenzeuge eines Sprengstoffanschlags auf einen kleinen amerikanischen Konvoi. Die Bombe war am Straßenrand versteckt, drückte die rechte Seitenwand des Humvee ein, und zwei amerikanische Soldaten fanden den Tod. Sie wurden umgehend von Hubschraubern abtransportiert. Das Ganze wirkte fast wie ein Verkehrsunfall. Die unbeteiligte arabische Menge, die überwiegend schiitisch war, verfiel glücklicherweise nicht in jenes Freudengeschrei, das in solchen Fällen im so genannten sunnitischen Dreieck häufig angestimmt wird. Zurzeit konzentrieren sich die Terroraktionen, die auch vor den Einrichtungen der Vereinten Nationen und des Internationalen Roten Kreuzes nicht zurückschrecken, im Wesentlichen auf den Norden des Irak. Das Kurdengebiet galt bislang als das einzige Territorium, in dem die Amerikaner als Freunde und Befreier empfangen wurden. Das könnte sich jedoch ändern, wenn - wie angekündigt - 10 000 türkische Soldaten im Irak einrücken. Diese Soldaten der Republik von Ankara sollen zwar außerhalb der kurdischen Siedlungszone stationiert werden, aber zwangsläufig müssen sie im umstrittenen Grenzgebiet ihre Nachschublager errichten, und sie haben schon angekündigt, dass sie auch im Irak die Verfolgung der PKK aufnehmen wollen, die in Ostanatolien einen jahrelangen Partisanenkrieg gegen die türkischen Streitkräfte durchgehalten hatte. Mit dem Engagement Ankaras könnte Washington sich also auch die positive Haltung der Kurden verscherzen, die sich wieder einmal verraten fühlen. Bei den Attentaten, die durchschnittlich ein oder zwei US-Soldaten das Leben kosten und die vor allem unter den mit den US-Streitkräften kollaborierenden irakischen Polizisten hohe Opfer fordern, müssen in zwei Kategorien unterteilt werden. Den Selbstmordattentätern sollte man im Allgemeinen eine religiöse, eine islamische Motivation gegen die ungläubigen Eindringlinge unterstellen. Bei den technisch perfektionierten Anschlägen, die durch Fernzündung ausgelöst werden, dürften jedoch mehrheitlich die arabischen Nationalisten und eventuell auch Angehörige der aufgelösten Baath-Partei verantwortlich zeichnen. Im Rückblick kann man sagen, dass die Amerikaner, denen die irakische Bevölkerung beim Einzug in Bagdad a priori nicht feindselig gegenüberstand, sämtliche Sympathien durch ihr extrem ungeschicktes, oft brutales Auftreten und die Missachtung der islamischen Sitten verscherzt haben. Im Gegensatz dazu haben die Briten, die ich in Basra, dem großen Hafen am Schat el Arab im äußersten Süden Mesopotamiens aufsuchte, in den vergangenen sechs Wochen keine Verluste zu beklagen gehabt. Ich begleitete die Soldaten des Lancashire-Regiments auf ihrer Patrouille in den dortigen Elendsvierteln und musste ihnen eine gewisse Bewunderung zollen. Sie trugen keine Helme, sondern das schwarze Barett, um nicht allzu martialisch zu wirken. Ihre Sicherungsmaßnahmen waren in Nordirland eingeübt worden. Wie die Iraker selbst zugeben, die dieser früheren Mandatsmacht ja nicht besonders freundlich gesonnen sind, verfügen eben die Briten über die Erfahrung einer alten Imperialmacht und über Eigenschaften im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung, die die Amerikaner möglicherweise nie erwerben werden. Im Gegensatz zu den amerikanischen Informationsstellen, die sich ausländischen Journalisten gegenüber total abkapseln oder lediglich unbrauchbare Informationen von sich geben, sind die Engländer extrem mitteilungsfreudig. Und sie geben insbesondere zu, dass die Elektrizitätsmasten und die Ölpipelines überwiegend von kriminellen Elementen zerstört werden, so dass das Petroleum in endlosen Konvois von Tankwagen nach Norden transportiert werden muss. Über die prekäre Situation auch im Süden des Landes sind sich die Briten allerdings voll bewusst. "The honeymoon is over!", lautet ihr skeptischer Kommentar. Das schwierigste Problem steht den Amerikanern noch bevor. Bekanntlich setzt sich die irakische Bevölkerung zu 65 Prozent aus schiitischen Muslimen zusammen. Falls man die Kurden als besondere Ethnie absondert, stellen die Schiiten sogar 85 Prozent der dort lebenden Araber dar. Bislang hat sich dieser Glaubenszweig den Amerikanern gegenüber zwar in keiner Weise kooperativ, aber passiv und abwartend verhalten. Attentate fanden bei ihnen nicht statt. Das entspricht dem klugen Kalkül, das insbesondere von dem ermordeten Ayatollah Baqr-el-Hakim angestellt wurde, wonach den Schiiten automatisch die Mehrheit im Parlament und der Auftrag zur Regierungsbildung zufallen würde, falls die Amerikaner mit ihren demokratischen Prinzipien und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Ernst machen würden. Der Verdacht verstärkt sich jedoch inzwischen, dass Paul Bremer im Auftrag Washingtons alles versuchen wird, um eine Machtergreifung der Schiiten zu verhindern. In diesem Falle befürchtet nämlich die Bush-Administration, dass ein islamischer Gottesstaat in Bagdad ausgerufen werden könnte, und im Pentagon geht wohl das Gespenst des Ayatollah Khomeini um. Falls jedoch die US-Besatzung fortfahren sollte, den geplanten Verfassungsentwurf zu manipulieren und der Marionetten-Mannschaft des "Gouverning Council", der von ihr willkürlich selektiert wurde, aufzuwerten, würde es vermutlich gerade bei den Schiiten zu einer gewaltigen Explosion kommen. Der Kult der Märtyrer, die Tradition der Selbstaufopferung, ist bei den Schiiten viel tiefer verwurzelt als bei den Sunniten. Als Führer eines massiven Aufstandes zeichnet sich bereits die Figur des jungen Scheikh Muqtada-el-Sadr ab, der zwar nicht über die höheren Weihen der schiitischen Hierarchie verfügt, aber die Elendsmassen vor allem im schiitischen Stadtviertel Sadr-City, wo zwei Millionen Menschen zusammengepfercht leben, zu einem beispiellosen Ausbruch des Zorns aufwiegeln könnte. Ihre wirkliche Chance haben die Amerikaner wohl verspielt, als sie nach dem Zusammenbruch des Regimes Saddam Husseins die irakische Armee auflösten und sich dieses potenziellen Ordnungselements beraubten. Heute sind es mehrheitlich wohl die ratlosen Elemente unter diesen ratlosen Soldaten, die ihre kriegerische Kunst gegen die Besatzer einsetzen.