6000 Nato-Soldaten sollen im Kosovo der Gewalt ein Ende bereiten. Doch Krawalle im serbisch dominierten Norden des Balkanstaates gehen weiter.

Nach wenigen Schritten überzieht ein schmieriger brauner Film die schwarzen Stiefel der Soldaten. Sie können dem zähen Morast nicht aus dem Weg gehen - nicht bei den Patrouillen, nicht auf dem Weg zu den Fahrzeugen mit dem weißen Schriftzug "KFOR", nicht auf dem Weg zum Klo. Der Regen hat die Wege im Feldlager an der Grenze vom Kosovo nach Serbien aufgeweicht. Mit jedem Schritt wächst das Plateau der Lehmschichten unter den Sohlen. Gate 1 nennt die Nato diesen Militärposten. Eine griffige Bezeichnung, die die deutschen und amerikanischen Soldaten sicherer aussprechen können als den Namen des Ortes: Brnjak. "Die Situation hier ist nicht stabil", sagt Oberleutnant André Conrad* von der deutsch-französischen Brigade aus dem baden-württembergischen Immendingen, die unter dem Kommando der Militärmission Kosovo Force (Kfor) steht. Damit meint Conrad nicht die allgegenwärtige Rutschgefahr im Camp, sondern die militärische Lage.

Conrad steht mit seinen 28 deutschen und 69 US-amerikanischen Kameraden an einer 80 Kilometer langen Linie, die aus der Sicht der kosovarischen Regierung in Pristina und großer Teile der Staatengemeinschaft zwei souveräne Staaten voneinander trennt, nach serbischer Interpretation jedoch das eigene Staatsgebiet durchschneidet. Zu beiden Seiten der Grenze leben Serben - die einen in der Republik Serbien, die anderen in einer Enklave mit einem serbischen Bevölkerungsanteil von 90 Prozent an der nördlichen Spitze des kosovarischen Territoriums.

Bis zum Spätsommer 2011 hatten die Soldaten der Nato-geführten Kfor, an der sich die Bundeswehr mit bis zu 1800 Soldaten beteiligt, nur unregelmäßig in Brnjak vorbeigeschaut. Ungehindert rollte der Verkehr auf der Landstraße durch die Berge über die Grenze. Organisiert von serbischen Clans schmuggelten Lastwagenfahrer Tausende Tonnen Benzin und Millionen Zigaretten unkontrolliert und zollfrei ins nördliche Kosovo. Banden, die auch im Drogen- und Menschenhandel mitmischen sollen, machten ein Millionengeschäft. Den 50 000 Bewohnern in den serbischen Dörfern verschafften die Transporte Jobs und Einkommen.

+++ De Maizière drängt zu politischer Lösung im Kosovo +++

Hochrangige deutsche Offiziere bezeichnen den serbisch dominierten Norden des Kosovo als Niemandsland, in dem Recht kaum durchzusetzen sei. Wer dort Auto fährt, benötigt nicht einmal ein Nummernschild. Kosovo-Albaner, die in den Norden ihres Landes fahren, müssen mit Prügel und demolierten Autos rechnen.

Frustriert beobachtet die Regierung in Pristina die Region, die wie ein Staat im Staat funktioniert. Die Kfor griff nicht ein, weil die Truppe zwar Gewalt verhindern und die Bewegungsfreiheit gewährleisten will, sich jedoch nicht als Polizei versteht. Auch die EU-geführte Mission Eulex half Pristina nicht. Eulex soll den Aufbau von Polizei, Justiz und Zoll unterstützen, ist aber machtlos gegen die organisierte Kriminalität.

Im vergangenen Sommer schlug Pristina im Alleingang zu. Einheiten der Sonderpolizei besetzten die Grenzposten. Nur Stunden später begannen die Krawalle aufgebrachter Serben. Schüsse fielen, ein Polizist starb, Zollgebäude brannten. In den Wintermonaten setzten die Serben der Enklave weiter auf Provokationen, stellten Lastwagen auf wichtigen Straßen quer, schütteten Erdwälle auf und bauten aus Schotter neue Straßen, um die Grenzposten der Polizei zu umgehen, die inzwischen von der Kfor überwacht werden. Seit November wurden 30 Kfor-Soldaten durch Schüsse, Granatsplitter und Molotowcocktails verwundet. An einer Straßenblockade in der Serbenhochburg in Zupce verletzte eine Handgranate zwei Offiziere der Bundeswehr. Die völlig überraschte Kfor setzte Truppen in Marsch, um die Gewalt einzudämmen - mit begrenztem Erfolg. Am 1. Juni erlitten zwei deutsche Soldaten in Zvecan Verletzungen, als sie beim Räumen einer Straßenblockade aus dem Hinterhalt beschossen wurden. Noch heute stehen in Zupce junge Männer an einer wichtigen Straßenkreuzung und sind bereit, auf Befehl jederzeit die Fahrbahn mit Baumstämmen zu blockieren.

"Die sind gut organisiert", sagt Kfor-Sprecher Marc Stümmler über die Männer in den Trainingsanzügen. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die Blockierer in Schichten eingeteilt sind und für ihre Arbeit bezahlt werden.

Am Gate 1 kontrolliert Eulex täglich 6000 Fahrzeuge. An den Zufahrten des Grenzübergangs stehen amerikanische Kfor-Soldaten vor ihren schweren Geländewagen ("Humvees"), die Waffen liegen demonstrativ griffbereit auf der Motorhaube. "Die kosovarische Polizei hat Beobachterstatus", sagt ein Eulex-Sprecher. Was er nicht sagt: Die Beamten sitzen unsichtbar in einem Container und schauen der internationalen Truppe bei der Arbeit zu. Wenn sie sich in ihren Uniformen am Gate 1 blicken lassen würden, wäre der nächste Gewaltausbruch programmiert.

+++ Deutsche Soldaten im Kosovo +++

Bis heute fragt sich der deutsche General Erhard Drews, warum die Gewalt im Kosovo und die Angriffe auf die Soldaten vielen Medien in Deutschland allenfalls eine kurze Meldung wert sind. "Was hier geschehen ist, wissen in Deutschland nur wenige Menschen", sagte der Befehlshaber der mehr als 6000 Soldaten starken internationalen Militärmission Kfor im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt. Bereits vor Jahren schrieben Journalisten vom "vergessenen Einsatz" der Bundeswehr im Kosovo.

Zweimal ließ Drews seit dem Sommer das Kontingent kurzfristig mit schnell verfügbaren Reservekräften aufstocken. Als die Krawalle außer Kontrolle gerieten, forderte er weitere 500 Mann an. In gleicher Stärke flog die Operational Reserve Force (ORF) der Nato im Kosovo ein, als im Mai in Serbien Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstanden.

Inzwischen glauben Beobachter im Kosovo, dass die gewaltsamen Ausschreitungen nach der Kommandoaktion der Kosovo-Polizei zum Kalkül der Regierung in Pristina unter dem ehemaligen Rebellenführer Hashim Thaci gehörten, der sein kleines Land wieder auf die Tagesordnung der Politik setzen wollte.

Während der Erzfeind Serbien sich als offizieller Kandidat anschickt, der EU beizutreten, muss Thaci erkennen, dass er nicht einmal im eigenen Land das Sagen hat und ihm gewaltige Steuereinnahmen durch Schmuggel entgehen. "Pristina wurde ungeduldig", sagt Drews. "Jetzt interessiert man sich wieder für das Kosovo." Im Dezember begrüßte Drews erstmals Bundeskanzlerin Angela Merkel in Pristina, die von einer einst ruhigen Region sprach, die sich zu einem Krisenherd entwickelt habe.

+++ Kämpfe zwischen Serben und deutschen Kfor-Soldaten +++

Wie eine Lösung aussehen könnte, um das Kosovo in einen stabilen Staat zu verwandeln, weiß offenbar niemand. Bei Gesprächen zwischen Serben und Kosovaren fehle der gute Wille, heißt es im Nato-Hauptquartier in Pristina. Noch immer sind viele Rechnungen seit dem Krieg im Jahr 1999 offen. Auch Thaci könnte von seiner Vergangenheit eingeholt werden. Nachdem der Europarat Hinweise auf Organhandel mit getöteten serbischen Kämpfern im Kosovo-Krieg gefunden hat, ermitteln amerikanische Spezialisten gegen Thaci. Er muss damit rechnen, nach Abschluss der Recherchen als amtierender Regierungschef eines Kriegsverbrechens beschuldigt zu werden.

Auch die internationale Gemeinschaft ist uneins über das Schicksal des kleinen Landes mit seinen 1,7 Millionen Einwohnern, das zu den ärmsten Europas gehört. Fünf Staaten der Europäischen Union - darunter Spanien und Griechenland - haben das Kosovo nicht einmal anerkannt. Deutschland und die USA gehören hingegen zu den Verfechtern der Unabhängigkeit.

Drews hält eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts für unverzichtbar, um die militärische Präsenz kontinuierlich reduzieren können. Mit 50 000 Soldaten war die Nato 1999 einmarschiert, um die serbische Armee zu vertreiben. Die noch im vergangenen Jahr geplante nochmalige Verkleinerung der Truppe hält Drews angesichts der jüngsten Gewalttaten fürs Erste für ausgeschlossen. "Wenn die Politik sich entscheidet, die Dinge in der Schwebe zu lassen, kann man sich eine weitere Reduzierung nicht leisten", sagt Drews.

Name geändert. Die Redaktion entspricht damit einer Bitte der Bundeswehr, die aus Sicherheitsgründen die Identität der Soldaten und ihrer Familien schützen möchte.