Syrien wandelt sich immer mehr zu einem rechtsfreien Raum. Milizen massakrieren ungestraft Zivilisten. Revolutionäre üben Selbstjustiz.

Istanbul. Wirtschaftssanktionen, UN-Beobachter und diplomatische Ächtung haben das syrische Regime bisher nicht von seinem gewalttätigen Kurs abbringen können. Auch die jüngsten Drohungen einzelner Politiker mit militärischer Gewalt sind nicht glaubwürdig genug, um den Clan von Präsident Baschar al-Assad ernsthaft einzuschüchtern. Die Armee der Deserteure kontrolliert zwar schon einzelne Landstriche, kann aber gegen Panzer und Kampfflugzeuge nichts ausrichten.

In dieser heiklen Situation kommt erstmals eine „dritte Kraft“ ins Spiel, wie Diplomaten in den vergangenen Tagen leicht beschönigend feststellten. Im Klartext heißt das: Angesichts der Gräueltaten des Regimes bilden sich jetzt auch auf der Seite der Regimegegner Milizen, die zum Teil einen militant-islamischen Hintergrund haben und Unterstützung aus dem Ausland erhalten.

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Nicht nur der Westen, sondern auch viele syrische Revolutionäre der ersten Stunde beobachten diese Entwicklung mit Entsetzen. Hilflos sehen sie zu, wie ihre friedliche Demokratiebewegung Schritt für Schritt zu einem brutalen Kampf zwischen den Regimetruppen und weitgehend unkontrolliert operierenden Brigaden mutiert. Die Angst vor einer „Afghanistanisierung Syriens“ geht um.

Denn auch in Afghanistan hatten Staaten wie Saudi-Arabien nicht direkt eingreifen wollen. Sie bewaffneten Islamisten und ließen sie gegen die Sowjettruppen kämpfen. Diese „Gotteskrieger“ bildeten später die Keimzelle des Terrornetzwerks Al-Kaida.

Ein Exil-Aktivist, der schon vor Beginn der Proteste in Damaskus und Daraa im März 2011 Menschenrechtsverletzungen des Regimes dokumentiert hatte, ist tief frustriert. Der Oppositionelle, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, betont zwar, die meisten Gräueltaten würden nach wie vor von den Truppen und Milizen des Regimes verübt. Doch er sagt, nach den Artillerie-Attacken und Massakern der vergangenen Monate habe in den Reihen der Regimegegner die Zahl der Kämpfer, die keinen Respekt vor Menschenrechten haben, zugenommen.

Der Aktivist erklärt: „Mir sind Fälle bekannt, wo Gefangene von sogenannten islamischen Militärgerichten verurteilt und dann hingerichtet wurden. Wenn uns der Westen nicht hilft, dann wird Syrien werden wie Afghanistan.“

War in den Berichten der Regimegegner anfangs noch ausschließlich von Deserteuren die Rede, so liest man dort inzwischen häufiger von Gefechten zwischen den Regierungstruppen und „bewaffneten Brigaden der Opposition“. In einem Forum der Opposition wurde jüngst über die Ankunft von Kämpfern aus Libyen berichtet. Auf einem Video, das angeblich Deserteure in der Provinz Idlib zeigt, sind auch mehrere Kämpfer zu sehen, die überhaupt nicht aussehen wie desertierte Soldaten.

In einem Interview, das diese Woche von Regimegegnern im Internet veröffentlicht wurde, kommt ein Mann zu Wort, der sich als desertierter Oberst zu erkennen gibt. Er sagt, 75 Prozent der Provinz Homs seien inzwischen unter den Kontrolle der Brigaden der Regimegegner. Einschränkend ergänzt er: „Das heißt, dass wir das Gebiet nur so lange kontrollieren, wie die Regierungstruppen nicht mit Panzern oder mit der Luftwaffe angreifen.“

Er berichtet über Waffenlieferungen und Versprechen wohlmeinender „Spender“ aus Saudi-Arabien und anderen Staaten: „Wir haben bisher aber hauptsächlich Panzerfäuste und normale Handfeuerwaffen, keine Waffen, die man gegen Panzer einsetzen kann.“ In seiner Einheit kämpften 100 Soldaten und „50 Zivilisten, die einsatzbereit sind, sobald wir genügend Waffen geliefert bekommen“.

Auf die Frage, welche Strategie er im Kampf gegen die „Banden von Assad“ anwende, sagt er: „In der Armee hat man uns die Strategie der Russen aus dem Zweiten Weltkrieg beigebracht, aber das taugt hier nicht, wir haben uns im Internet und auf anderen Wegen über die Ermüdungstaktik informiert, wie sie (von den Gegnern der Russen) in Tschetschenien und Afghanistan angewandt wurde.“