Wegen Diktator Gaddafi floh er aus seiner Heimat. Jetzt hilft ein libyscher Arzt aus Stade den Rebellen in ihrem Kampf gegen den Diktator.

Was sagt man einem jungen Mann, der vor einem liegt, mit 19 Jahren und einem zerfetzten rechten Lungenflügel? Der kaum den Atem findet, um Worte zu formen, und der nur eines will: zurück in den Krieg? Der bis vor Kurzem noch nie eine Waffe in der Hand hatte und dem man am Vortag ein Teilmantelgeschoss aus der Nähe des Herzens operieren musste? Einem schmächtigen Kerl, jünger als der eigene Sohn? Ahmed Abu Baker Ahmed zuckt mit den Schultern, einmal, ein zweites Mal. Dann antwortet er: "Ja, was soll man da sagen?"

Ahmed weiß, was er sagen müsste in so einem Moment, er weiß es als Arzt, als Vater, als erfahrener Mann von 69 Jahren, der das Leben genossen hat. In diesen Tagen ist Ahmed aber nicht einfach Arzt und Vater, er ist vor allem Libyer. Da fällt die Antwort anders aus.

Es ist früher Abend in Stade, zarte Sonnenstrahlen fallen auf die Straßen rund um die Praxis. Nachtigallenweg, Drosselstieg und Kuckucksweg heißen die hier. Dahinter die Felder der Stader Geest. Ahmeds letzter Patient ist längst gegangen, ein Kapselriss im Finger. Der Chirurg nimmt die Röntgenbilder von der Wand im Sprechzimmer, die Mappe verschwindet im Schrank. Was bleibt, ist der Geruch von Sterilisationsmittel. "In Libyen zu helfen hat mich ausgefüllt", sagt Ahmed. "Dort diente meine Arbeit endlich einem guten Zweck."

Das "dort" liegt 2500 Kilometer weit weg, einmal über das Mittelmeer, in einer anderen Welt. Eine Welt, die sich auflehnt gegen ihren Despoten, in der Rebellen versuchen, ihr Land zu befreien, und der eiserne Machthaber Muammar al-Gaddafi gnadenlos zurückschlägt gegen sein Volk.

Tage- und nächtelang saß Ahmed vor dem Fernseher. Irgendwann konnte er nicht mehr nur zusehen. Denn anders als in Tunesien und Ägypten jubeln die Menschen in dem Land, in dem er seine Kindheit verbracht hat, noch nicht. Noch sterben Tausende.

Ende März bricht Ahmed Abu Baker Ahmed auf, mit zwei weiteren Ärzten aus Bremen und Oldenburg sowie mehreren Koffern voller Medikamente. Über Istanbul geht es mit dem Flugzeug nach Kairo, von dort per Taxi über die libysche Grenze, nach Bengasi, zum nächstbesten Krankenhaus.

Ahmed wird von den Helfern in dieser Klinik nach Adschdabija geschickt, 150 Kilometer südwestlich von Bengasi. Eine Hafenstadt, deren Name im Zusammenhang mit besonders schweren Gefechten zwischen Gaddafi-Anhängern und Aufständischen fällt. Als er dort im allgemeinen Krankenhaus ankommt, toben die Kämpfe im gerade mal 20 Kilometer entfernten Marsa al-Brega, Ahmed hört die Detonationen. Und er sieht, wen die Bomben treffen. Stündlich kommen die Verletzten, Aufständische, die sich nicht vertreiben lassen wollen aus der Erdölstadt.

So viele kommen, dass sie nicht wissen wohin mit ihnen. 17-, 18-Jährige mit Körpern voller Granatsplitter, die Rebellen sind jung. Ahmed behandelt sie im Flur, im Eingangsbereich, auf dem Boden. Zehn Ärzte gibt es für sie. Im Wirrwarr sieht Ahmed vor allem Blut, es sickert durch Kleidung und Verbände. Es fehlt an Verbandsmaterial und an sterilen Geräten, anstelle des Geruchs von Desinfektionsmittel liegen Schmerz und Leid in der Luft.

Zehn Stunden am Stück steht Ahmed im OP, wie viele Hände, wie viele Beine er nicht retten konnte, hat er nicht gezählt. Aber die Kopfschüsse, die bleiben im Gedächtnis. Ahmed fragt sich, wie lange ein Mensch das aushalten kann; er operiert weiter. Und hat das Gefühl, den Richtigen zu helfen.

Wer halbwegs stabil ist, wird weiter nach Bengasi verfrachtet. Wer wieder stehen kann, geht zurück nach al-Brega.

Ahmed hält keinen auf. "Die jungen Männer wollen sich frei fühlen", sagt er. Sie kennen nur Gewalt und Unterdrückung, bis jetzt. Lieber landen sie auf der Trage mit einem Projektil in der Lunge als weiter gebückt durch die Straßen zu gehen.

Ahmed Abu Baker Ahmed ist ein ruhiger Mann, sofort würde man ihm seinen gebrochenen Finger anvertrauen. Nur schwer kann man sich den Mann im weißen Arzthemd mit anderen Rebellen auf einem der Plätze in Bengasi vorstellen, ekstatisch jubelnd und Bilder von Gaddafi verbrennend. Doch man spürt: Der Freiheitswille, den Ahmed in Libyen gesehen hat, auch in den Augen der Verwundeten, erfüllt ihn mit Genugtuung. Sie kämpfen für die Verwirklichung seines alten Traums.

Der in Tripolis geborene Ahmed kommt mit 18 Jahren nach Deutschland. Im bayerischen Kochel am See lernt er Deutsch, ein Jahr später, 1961, beginnt er sein Medizinstudium in Heidelberg, er studiert in Hamburg, Berlin und Essen. In Rotenburg an der Wümme macht er seinen Facharzt für Unfallchirurgie. Ende der 70er-Jahre kehrt er zurück nach Tripolis. Es dauert eineinhalb Jahre, bis er es nicht mehr aushält.

"In der Stadt hingen auf einmal überall Gaddafi-Poster", sagt Ahmed. "Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis." Der in Deutschland ausgebildete Arzt arbeitet in einem Traumazentrum in Tripolis. Es ist die Zeit des Tschadkrieges, er versorgt Kriegsverletzte. Die Wunden sind für Ahmed damals schwer zu ertragen, weil sie so sinnlos sind. Damals zogen die Libyer noch für Gaddafi in den Krieg, nicht gegen ihn.

"Wenn ein Militär ein Land regiert, kann man es gleich beerdigen", sagt Ahmed. Gaddafi ist für ihn ein Krimineller, der sein Volk unterdrückt, um selbst Reichtümer anzuhäufen. "Gucken Sie sich die Infrastruktur in Libyen an, da lachen Sie sich kaputt", sagt Ahmed. Nein, Gaddafi ist kein Staatsmann.

Dabei galt Gaddafi mal als Revolutionär, als Befreier seiner Landes von der Monarchie, als er König Idris per Putsch ins Exil nach Kairo jagte. In seiner mehr als 40 Jahre dauernden Herrschaft gibt sich der Beduinensohn dann unberechenbar bis unzurechnungsfähig. Gaddafi knechtet sein Volk, tritt in anderen Regionen als Gönner auf. Er lässt Flugzeuge sprengen, Terroristen befreien und Anschläge verüben, um den USA nach dem 11. September beizustehen. Der Westen weiß den Despoten nicht einzuordnen. Mal umgarnt, mal bekriegt man ihn.

Wegen Gaddafi hat Ahmed Libyen verlassen. Unter dem Vorwand, Krankenschwestern zu rekrutieren, reist der Chirurg im März 1981 über den Kosovo nach Frankfurt. Von da an gilt er quasi als fahnenflüchtig, 20 Jahre kann er nicht mehr in seine Heimat zurück, aus Angst, auf offener Straße "abgeknallt zu werden". Gaddafis Leute jagen Vaterlandsverräter, Männer wie Ahmed sind vogelfrei. "Streunende Hunde" nennt sie der Diktator. Erst in Stade, wo Ahmed sich später niederlässt, fühlt er sich nur noch frei.

Heimweh hat Ahmed trotzdem. Ab und zu kommt seine Mutter aus Tripolis zu Besuch oder er trifft seine Familie in Djerba, in den 80er- und 90er-Jahren der Treffpunkt für libysche Familien, deren Angehörige sich ebenfalls nicht mehr ins Land trauen. Als Gaddafi die Gesetze 2002 lockert, reist Ahmed regelmäßig in die Heimat. Sein letzter Besuch vor ein paar Wochen wird der entsetzlichste gewesen sein. Und war doch befreiend.

Keine Gaddafi-Poster mehr an den Häuserwänden. Jubelnde Menschen auf den Straßen. Zum ersten Mal hatte Ahmed das Gefühl, wieder lachen zu können. Zwischen den Trümmern, gemeinsam mit trauernden Familien. Sein Herz ist noch immer in Aufruhr.

Wäre seine Familie in Deutschland nicht - seine Frau und seine zwei Kinder -, Ahmed wäre länger als drei Wochen geblieben. Mit den Gedanken ist er weiter bei den Verletzten von al-Brega, auch wenn er in Stade gerissene Kapseln behandelt. Lieber würde er seine Arbeit in Libyen zu Ende bringen.

Es wird ein gutes Ende geben, davon ist Ahmed überzeugt. "Wie will denn ein Mann, der sein Volk so umbringt, erwarten, wieder regieren zu können?" Es wird dauern, aber ein demokratisches System wird kommen, zu 100 Prozent, sagt Ahmed. Auch ohne deutsche Hilfe. Ahmed legt die Stirn in Falten, seine Art auszudrücken, was er darüber denkt, dass Westerwelle sich aus dem Nato-Einsatz raus hält. "Ich finde es erstaunlich, dass ein Land, das selbst unter einem Diktator gelitten hat, jetzt einfach zusieht", sagt Ahmed. Er wird wieder hinfahren nach Libyen, um zu helfen, vielleicht noch im Juni.

Und um zu sehen, wie seine Landsleute nicht mehr geduckt durch die Straßen gehen, sondern aufrecht.