Steht das Ende des Krieges in Libyen bevor? Was kommt danach? Viele Länder im Nahen Osten stehen vor historischen Umbrüchen. Eine Analyse.

Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein: Gaddafi wird fallen. Die Nato verfolgt eine neue Strategie und nimmt verstärkt Regierungspaläste, militärische Hauptquartiere und Kommunikationseinrichtungen ins Visier. Der mächtigste Militärklub der Welt will damit Gaddafis Regime ins Mark treffen und die fortgesetzte Gewalt gegen die Bevölkerung stoppen. Offiziell macht das Bündnis keine Jagd auf den Diktator. Dass nun sein jüngster Sohn und drei Enkel bei einem Angriff getötet worden sein sollen, deutet allerdings darauf hin, dass man sich im Hauptquartier vom Ende Gaddafis auch ein Ende des Krieges erhofft.

Was werden die Libyer aber finden, wenn sie vielleicht bald seinen Palast stürmen? Kronleuchter oder Jagdtrophäen? Oder wandhohe kitschige Kolossalgemälde wie bei Saddam Hussein? Jahrzehntelang verstellten Patriarchenfiguren wie Gaddafi (Libyen), Mubarak (Ägypten), al-Assad (Syrien) oder Ben Ali (Tunesien) mal mit militärischem Pomp, mal mit bunter Beduinen-Optik den Blick auf die Lebensverhältnisse ihrer Völker. Diese haben jetzt begonnen, für sich selbst zu sprechen.

Nur: Wie viele Stimmen erheben sich da? Für welche Reformen in Gesellschaft und Wirtschaft treten sie ein? Das Bild ist uneinheitlich. In Tunesien hat die Übergangsregierung inzwischen 49 Parteien zugelassen (unter Ben Ali waren es nur neun), die im Juli in das Interims-Parlament gewählt werden und an der neuen Verfassung mitwirken können. Auch in Ägypten gibt es neue Parteigründungen für die Wahl im September, aber der Machtkampf zwischen Demonstranten und Militär spitzt sich zu. In Syrien scheint Präsident Baschar al-Assad auf eine gewaltsame militärische "Lösung" gegen die Demonstranten hinzuarbeiten. In Libyen und im Jemen sind die Ziele der Aufständischen noch völlig nebulös.

So unterschiedlich die Länder sein mögen: Ursache für den schnellen politischen Flächenbrand im Nahen Osten ist ein Problemstau, der in allen Ländern herrscht. Aber anders als beim Zusammenbruch der Ostblockstaaten vor 20 Jahren wird den arabischen Ländern nicht verkrustete Planwirtschaft zum Verhängnis, sondern das Gegenteil: Sie destabilisieren sich, gerade weil sie ihre Wirtschaft reformiert haben. Und mit dem Fall von Mubarak oder Ben-Ali fällt auch das System staatlicher Zuwendungen weg, mit denen die Machthaber wichtige Gruppen an sich banden.

Noch ein Unterschied zum Ostblock: Die sozialistischen Regimes drängten ihre Bürger in Gewerkschaften, Partei- und Jugendverbände hinein. In den arabischen Ländern fehlt die Übung in politischen Organisationsstrukturen. Und völlig ungelöst sind bisher vor allem die demografischen Probleme, wie die riesige Zahl der jungen Leute zeigt, die keine Jobs und keine Perspektive finden.

Ihnen haben die neuen Medien geholfen, sich erstmals unüberhörbar zu Wort zu melden. Aber Facebook schafft noch keine Parteien, Aufstände schaffen noch keine Arbeitsplätze. Die vom Abendblatt befragten Experten sind nicht durchweg euphorisch. Bei allem Respekt vor dem Selbstbestimmungswillen, der die Menschen im Maghreb und im Nahen Osten beflügelt: Der Berg liegt noch vor ihnen.

Wirtschaftliches Wachstum ohne Entwicklung

Seit 1990 haben viele arabische Länder ihre Wirtschaft modernisiert. Ziel war, auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu werden und die Staatsquote abzubauen. "Die Länder haben durchaus mehr Wettbewerbsfähigkeit errungen, und das hat zu einem wirtschaftlichen Wachstum mit Raten zwischen vier und sieben Prozent geführt", sagt Professor Günter Meyer, Wirtschaftsgeograf an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. "Aber das Wachstum kam beim größten Teil der armen Bevölkerung nicht an. Es hat zugleich zu einer Absenkung der Löhne und zu steigender Arbeitslosigkeit geführt. Das Schlüsselwort ist 'Wachstum ohne Entwicklung'."

Von der wirtschaftlichen Liberalisierung hat jeweils nur eine kleine wirtschaftliche Elite profitiert, die in enger Verbindung zum jeweiligen Regime steht. Ein Beispiel für viele: 1999 leitete der junge König Abdullah II. von Jordanien die Privatisierung zahlreicher Staatsunternehmen ein. Die Weltbank lobte sie als die erfolgreichsten im Nahen Osten, sie führten 2000 bis 2008 zu jährlichen Wachstumsraten bis zu sieben Prozent. Die Kehrseite waren umfangreiche Entlassungen - reich wurde dabei nur eine kleine Elite mit "guten Beziehungen".

Ein Schlüsselsektor in den nordafrikanischen Ländern ist, abgesehen von Erdöl und Tourismus, die Textilindustrie. Die dort geschaffenen Jobs sind allerdings schlecht bezahlt. Bereits heute sind in Marokko 60 Prozent, im Jemen bis zu 45 Prozent, in Ägypten um 35 Prozent der Menschen im informellen Sektor tätig, leben vom Verkauf auf lokalen Märkten oder einfachen Dienstleistungen. Der weltweite Anstieg der Rohstoffpreise im vergangenen Jahr, vor allem für Weizen, traf die Maghrebstaaten und Ägypten hart. Und eins der gravierendsten Probleme - vom Jemen über Ägypten bis Marokko - bleibt die Jugendarbeitslosigkeit. Ausblick: "Die wichtigsten Maßnahmen für eine nachhaltige, positive Wirtschaftsentwicklung in allen arabischen Staaten sind die Bekämpfung der Korruption und eine grundlegende Reform des Bildungssystems", sagt Günter Meyer. "Der unrechtmäßig angeeignete Reichtum der Profiteure des alten Regimes sollte in einen Fonds zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch berufliche Ausbildung und Kredite zur Existenzgründung überführt werden. Das fordern auch die Demokratiebewegungen in Ägypten und Tunesien."

Keine Übung in Sachen Demokratie

Zum klassischen Herrschaftsmuster aller Machthaber im Nahen Osten gehören Repression und Patrimonialismus, so Markus Loewe, Nahostexperte des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Patrimonialismus ist die Zuteilung von Privilegien an strategisch wichtige Gruppen oder Clans, damit sie loyal bleiben. Die Führung sichert ihre Macht durch Beziehungen und Beförderungen, sie toleriert Korruption. Auf Proteste antwortetet sie mit "Kurskorrekturen", etwa durch Preissenkungen oder Minister-Austausch, ohne dass sich am Grundsystem etwas ändert.

"Die Folge ist eine Versorgungs-Mentalität in der Bevölkerung", erläutert die Hamburger Politikwissenschaftlerin Sigrid Faath: Die Führung wird überwiegend danach beurteilt, welchen "Output" sie für die eigene Bevölkerungs- und Interessengruppe erbringt. Eine wichtige Zielgruppe sind Lehrer: Syriens Regime erkauft sich deren Zustimmung, indem es Lehrern kostenlose Laptops und Beamten Zuschüsse gewährt. In Ägypten wird geduldet, dass Lehrer nebenher privat bezahlte Nachhilfeklassen unterhalten. Auch Ägyptens Militär genießt Privilegien, es besitzt Industrie- und Dienstleistungkomplexe. Diese Zuteilungspolitik hat Erwartungshaltungen genährt, die neue, erst recht demokratische Regierungen nicht erfüllen können.

Eine Kompromiss- und Debattenkultur gibt es noch nicht. Der Aufbau von Organisationen und Oppositionsstrukturen ist wenig entwickelt, besonders in Libyen. Zwar haben Tunesien und Ägypten aktive Juristen- und Richterverbände, auch Gewerkschaften. Ihnen gegenüber formieren sich religiös orientierte Gruppen. Die jungen Leute, die die Aufstände trugen, haben noch keine politische Repräsentanz.

Ob diese Jugend eine Chance hat, ihre Forderungen einzubringen, wird sich in Tunesien erst zeigen, "wenn über die künftige Ausformung des politischen Systems entschieden wurde und Wahlen waren", meint Sigrid Faath. In Ägypten müssen sich die Jüngeren erst noch in Parteistrukturen organisieren: "Das wird ein längerer Prozess." Durch die baldigen Wahlen hätten es neue Parteien ohne bestehende Organisationsstrukturen schwer: "Die Zeit ist zu kurz."

Die demografische Explosion überfordert die Staaten

Zum globalen Bevölkerungswachstum haben die Staaten Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens überproportional beigetragen: mit im Schnitt 2,73 Prozent Bevölkerungswachstum zwischen 1965 und 1990. Dieses frühere große Wachstum führt jetzt zu dem überproportional großen Anteil der 15- bis 30-Jährigen, die auf die Arbeitsmärkte drängen.

Allein Ägypten bringt jährlich 700 000 junge Absolventen und Arbeitssuchende hervor, Syrien 300 000. Vor 20 Jahren konnten die Universitätsabsolventen noch erwarten, dass ihnen Jobs im völlig aufgeblähten Staatsapparat angeboten wurden - das ist vorbei. Die geschönten Arbeitslosenzahlen von angeblich neun bis zwölf Prozent in den Maghrebstaaten und Ägypten täuschen niemanden mehr, Wirtschaftsexperten gehen vom Doppelten aus. Und mehr als 70 Prozent der Arbeitslosen in allen Maghreb-Staaten sind unter 30 Jahre alt. Das Bevölkerungswachstum hat bereits Folgen: Wohnraummangel, eine Überforderung der staatlichen Infrastruktur im Verkehr, im Bildungs- und Gesundheitswesen - und anhaltende Arbeitsmigration in die Golfstaaten und nach Westeuropa.

Die Geburtenziffer ist in allen arabischen Ländern gesunken, auch die Fruchtbarkeitsrate ist zurückgegangen: In Ägypten, Jordanien, Marokko bekommt eine Frau im Schnitt 2,5 Kinder, in Syrien 3,1, im Jemen 6,3 (Deutschland: 1,4). Das bedeutet: Ein großer Jugend-Anteil in der Bevölkerung wird vorerst bleiben.

Neue Medien kontra Zensur

In den arabischen Ländern stieg die Zahl der Internet-User in den vergangenen zehn Jahren rasant an. Das Web ist arabisiert, kann also auch von Englisch-Unkundigen benutzt werden. Stefan Winkler, bis 2008 Leiter des Goethe-Instituts in Alexandria, ging 2007 auf Facebook, "weil immer mehr junge Künstler, Filmemacher, Theaterleute in Ägypten dort ihre Musik, ihre Filme veröffentlichten". Winkler stellte damals fest, "dass sich die Zahl der ägyptischen Facebook-User innerhalb weniger Monate von 70 000 auf 500 000 steigerte". Heute sind es 6,6 Millionen.

Ägyptens Internet-Politik sei deutlich liberaler als in den meisten Nachbarländern, sagt Winkler. In Syrien, Iran und Saudi-Arabien geht keine Internet-Seite online, die nicht vorher die Zensur passiert hat. In Ägypten können Blogs und kritische Seiten zunächst erscheinen; sie werden erst gelöscht, ihre Betreiber verhaftet, wenn sie auffallen.

Profitiert haben vom Web vor allem die Frauen. Ihnen gibt das Netz Ausdrucksmöglichkeiten, die sie sonst nirgends haben. In Ländern, wo staatlich kontrollierte Fernsehsender die Nachrichten lenken, befriedigt die junge Generation ihre Bedürfnisse nach Information, sozialen Netzwerken, Unterhaltung und digitalem Lernen vor allem im Internet. Es ist der lebendige Gegenentwurf zu der scharfen Zensur von Zeitungen und Zeitschriften, der Behinderung von Richtern und Staatsanwälten, der Gängelung der Bürger schlechthin.

Inzwischen ist der Umbau der Medienlandschaft in Ägypten in vollem Gange, sagt Stefan Winkler. Die Chefredakteure der sieben staatlichen Presseorgane wurden abgesetzt. Ausblick: "Die staatliche Gängelung der Medien wird sich immer schwerer durchsetzen lassen", meint Winkler. "Mit der Abschaffung der Zensur wird es aber nicht so einfach. Weiterhin gibt es rote Linien, die Autoren nicht überschreiten dürfen." Ein Beispiel ist der ägyptische Blogger Maikel Nabil Sanad, der Erste, der nach dem Sturz Mubaraks verhaftet wurde. Wegen seiner Kritik an der Armee wurde er jetzt zu drei Jahren Haft verurteilt. "Auf Facebook gibt es Sanad-Befürworter und Sanad-Feinde", so Winkler. "Es wird sehr schwierig, in der Bevölkerung die Akzeptanz von Andersdenkenden zu verankern."