Berlin. Neuartige Waffen könnten das rätselhafte „Havanna-Syndrom“ verursacht haben. Die Spur führt zu Putins Geheimdienstgruppe 29155.

Es klingt wie der Plot eines Schundromans. Und doch gibt es neue Hinweise auf das Havanna-Syndrom: Zum einen weitere Opfer, zum anderen wird eine einst kalte Spur wieder heiß diskutiert. Sie führt zum russischen Militärgeheimdienst GRU, genauer gesagt: zu Wladimir Putins berüchtigter Einheit 29155.

Immer wieder klagten US-Regierungsbeamte in den vergangenen Jahren über plötzlich auftretende, aber dann anhaltende Kopfschmerzen, Hörverlust, Schwindel und Übelkeit. Der letzte Fall ist ein Jahr alt, wurde aber erst jetzt bekannt.

Er betrifft einen hochrangigen Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums, wie Pentagon-Sprecherin Sabrina Singh am Montag (Ortszeit) in Washington bestätigte. Bei der Person setzten die Beschwerden nach dem Nato-Gipfel in Vilnius ein.

Havanna-Syndrom durch Akustik- oder Elektroschallwaffen?

Für die Symptome gibt es medizinische Erklärungen, aber seit Jahren eben auch einen abenteuerlichen Verdacht, den Rechercheure vom „Spiegel“, des Investigativportals „The Insider“ und des US-Fernsehmagazins „60 Minutes“ für plausibel halten. Sie führen sie auf Akustik- oder Elektroschallwaffen zurück.

Beweise haben sie trotz zahlreicher Untersuchungen nicht, ebensowenig die US-Behörden. Fünf von sieben an einer früheren Untersuchung beteiligte Geheimdienste stuften eine ausländische Verantwortung als „höchst unwahrscheinlich“ ein.

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Die Behörden bezweifeln nicht, dass die Symptome echt sind, führen sie jedoch auf Vorerkrankungen oder Umweltfaktoren zurück. Die Opfer werden oft berufsunfähig und von der US-Regierung entschädigt. Man geht von 1500 Meldungen aus 96 Ländern aus und dass etwa zehn Prozent der Fälle tatsächlich auf das Havanna-Syndrom zurückgehen. Alle gaben an, dass sie plötzlich ein seltsames Geräusch hörten und starken Druck im Kopf verspürten, bevor die Symptome einsetzen. Der Neuroforscher James Giordano, der dazu drei Berichte verfasst hat, sagte der „Zeit“, „für mich sieht das wie ein Teil des Schattenkriegs der Russen aus.“

Opfer haben meist eine Russland-Verbindung

Kremlsprecher Dmitri Peskow wies alle Verdächtigungen zurück. Doch den Recherchen zufolge gibt es viele Indizien, die nach Russland führen, denn:

  • Die Opfer sind ausschließlich Nordamerikaner;
  • deren Arbeit für das Militär, die Geheimdienste oder den diplomatischen Dienst oft einen Russland-Kontext hat.
  • In einigen Fällen kamen ihnen nachweislich russische Agenten nahe.
  • Die Russen – aber nicht nur sie – arbeiten seit Jahrzehnten an Strahlenwaffen.

Neu und auffällig sind an den Erkenntnissen die parallelen Aufenthaltsorte von Opfern des Havanna-Syndroms und Mitgliedern der Einheit 29155; und dass es mehr Fälle gibt und sie weiter zurückreichen als bisher angenommen wurde.

Recherchen führen zu Putins Geheimdienst

Als Patient Null gilt ein CIA-Mitarbeiter in Havanna, der 2016 erstmals eine Schmerzattacke meldete. Laut „Spiegel“ hatten aber schon zwei Jahre zuvor zwei Vertreter im US-Konsulat in Frankfurt am Main im November 2014 über ähnliche Symptome geklagt. Nach der Lesart müsste man vom Frankfurt-Syndrom reden.

Ging es wirklich hier los? US-Botschaft in Havanna. Die erste Klage kam aus Kuba.
Ging es wirklich hier los? US-Botschaft in Havanna. Die erste Klage kam aus Kuba. © DPA Images | DESMOND BOYLAN

Nun fand der „Spiegel“ anhand von Hotelbuchungen heraus, dass zwei Mitglieder der berüchtigten GRU-Einheit zwei Monate vorher nach Genf gereist waren. Sie wurden von Konsulatsmitarbeitern auf Bildern wiedererkannt. Einer von ihnen sei nur wenige Wochen vor der mutmaßlichen Attacke auf der Straßenseite gegenüber vom Wohnbereich des Konsulats auf- und abgelaufen.

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Die Einheit 29155 soll für Sabotage und Anschläge in ganz Europa zuständig sein, unter anderem 2018 für den Giftanschlag im britischen Salisbury auf Sergei Skripal, ein in den Westen übergelaufener GRU-Offizier. Der pensionierte CIA-Offizier Marc Polymeropoulos, der im Dezember 2017 in Moskau das Havanna-Syndrom erlebte und seine Karriere als Einsatzleiter des Europa- und Eurasien-Missionszentrums der CIA beendete, erkennt ein Muster: Vergeltung für Ereignisse, die Russland den USA vorwirft.

Wer ist die berüchtigte Gruppe 29155?

Viel ist über die Einheit nicht bekannt. Das Wissen geht überwiegend auf einen Bericht der „New York Times“ zurück. Demnach wurde 29155 im Jahr 2008 gegründet. Moldawien, Montenegro und Tschechien führen diverse Anschläge und Destabilsierungsversuche auf sie zurück.

Sie soll aus nur rund 20 Mitgliedern bestehen, darunter zwei Männer, die beide im Verdacht stehen, Vater und Tochter Skripal vergiftet zu haben. Geht auch das Havanna-Syndrom auf das Konto von 29155? Infolge des Ukraine-Krieges ist der Resonanzboden für solche Vorwürfe größer denn je. Zumindest im Westen hat das Putin-Regime seither endgültig einen Schurkenstatus.

Opfer klagen über US-Regierung

Die meisten Opfer gingen schon immer von Vorsatz aus. Viele von ihnen beklagen seit Jahren, dass die US-Regierung ihre Fälle nicht ernst genug genommen habe. Das könnte sich nach den neuerlichen Recherchen ändern.

Die US-Denkfabrik „Institute for the Study of War“ schreibt: Sollte bestätigt werden, dass die russische GRU für zahlreiche Angriffe auf US-Militär-, Diplomaten- und Geheimdienstpersonal und deren Familien verantwortlich sei, „käme dies einer erheblichen, anhaltenden russischen Kampagne kinetischer Angriffe gegen die Vereinigten Staaten gleich“.

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