Berlin. Mehr als drei Millionen Beschäftigte im deutschen Gesundheitswesen stehen hinter dem Aufruf. Unsere Redaktion veröffentlicht ihn vorab.

Deutschland den Deutschen? Der populistische Schlachtruf der Rechtsextremen hätte im Jahr 2024 lebensgefährliche Folgen: Ohne die türkische Ärztin, ohne den polnischen Krankenpfleger würde das deutsche Gesundheitssystem in wenigen Tagen zusammenbrechen. Ohne Mediziner und Pflegekräfte mit ausländischem Pass geht hierzulande nichts.

Mit einem dringenden Appell wenden sich jetzt die wichtigsten Akteure im Gesundheitswesen gegen Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Hass und Hetze: „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind für ein menschliches, diskriminierungsfreies Gesundheitswesen essenziell“, heißt es in dem Aufruf, der an diesem Montag veröffentlicht werden soll und dieser Redaktion vorab vorliegt.

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„200 Organisationen und Verbände aus dem Gesundheitswesen unterstützen unsere Erklärung“, sagte Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, dieser Redaktion. Einen so breiten Zusammenschluss unterschiedlichster Professionen aus dem Gesundheitswesen habe es noch nie zuvor gegeben. „Das ist ein klares Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und zeigt eindrücklich, dass Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus in unserem Gesundheitswesen keinen Platz haben.“

Ärzte-Präsident: „Klares Bekenntnis zu Demokratie“

Zu den insgesamt 200 Unterstützern des Appells gehören neben der Bundesärztekammer und den Landesärztekammern zahllose medizinische Berufsverbände und Fachgesellschaften, aber auch der Deutsche Pflegerat, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Verband der Medizinischen Fachangestellten und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Zusammen vertreten sie nach Angaben der Initiatoren mehr als drei Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen.

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, gehört zu den Initiatoren des Appells.
Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, gehört zu den Initiatoren des Appells. © imago/IPON | IMAGO

Die Initiatoren betonen: „Die Beschäftigten in unserem Gesundheitswesen kommen aus allen Teilen der Welt.“ Gleichzeitig gelte, dass Patientinnen und Patienten unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion, sozialem Status oder sexueller Orientierung medizinisch versorgt würden. Die Unterzeichner sähen deshalb mit großer Sorge, „wie Hass und Hetze zunehmen und unsere demokratischen Werte mehr und mehr infrage gestellt werden.“ Das deutsche Gesundheitssystem gewinne durch Kolleginnen und Kollegen mit ausländischen Wurzeln, heißt es weiter.

Die Vielfalt in den Kliniken und Praxen, bei Pflegediensten und in den Einrichtungen sei wichtig. „Auf ihren Beitrag will und kann die medizinische und pflegerische Versorgung in Deutschland nicht verzichten“, so der Appell. „Der Austausch von Ideen und die Zusammenarbeit mit Menschen aus verschiedenen Nationen und Kulturen bereichern unsere Arbeit, sie sind unerlässlich für wissenschaftliche Exzellenz und medizinischen Fortschritt.“ Das Bündnis stellt sich ausdrücklich hinter die Demonstrationen, bei denen Woche für Woche Hunderttausende Menschen für den Erhalt von Freiheit und Demokratie auf die Straße gehen.

Mediziner für mehr Vielfalt: Was konkret im Appell steht

Wie groß die Vielfalt im Gesundheitswesen inzwischen ist, zeigen die jüngsten Zahlen der Ärztestatistik: Demnach ist die Zahl der ausländischen Ärztinnen und Ärzte im vergangenen Jahr auf ein neues Rekordniveau gestiegen. Ende 2023 arbeiteten in Deutschland insgesamt 63.763 Mediziner ohne deutschen Pass. Die Gesamtzahl hat sich damit in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als versechsfacht.

Nur ein weltoffenes Deutschland kann exzellente Mediziner aus dem Ausland an sich binden.
Nur ein weltoffenes Deutschland kann exzellente Mediziner aus dem Ausland an sich binden. © iStock | hoozone

Gab es 1993 rund 10.000 ausländische Mediziner in Deutschland, waren es 2013 schon rund 30.000. Zehn Jahre später stieg die Zahl auf über 60.000 ausländische Ärzte. Die meisten Mediziner ohne deutschen Pass kommen aus EU-Ländern oder anderen europäischen Staaten sowie aus Ländern des Nahen Ostens. Häufigste Herkunftsländer sind Syrien (6120), Rumänien (4668), Österreich (2993), Griechenland (2943), Russland (2941) und die Türkei (2628).

Parallel dazu ist auch der Anteil von Pflegekräften mit ausländischem Pass gestiegen: Im Juni 2022 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 1,68 Millionen Menschen in Pflegeberufen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Anteil der Pflegekräfte mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit hat sich von acht Prozent im Jahr 2017 auf 14 Prozent im Jahr 2022 nahezu verdoppelt. Dabei ist der gestiegene Anteil vor allem auf Drittstaaten zurückzuführen.

Rund 244.000 Pflegekräfte im Land mit ausländischem Pass

Die meisten der insgesamt 244.000 ausländischen Pflegekräfte kommen aus Polen, Bosnien und Herzegowina, aus der Türkei, Rumänien und Kroatien. Auch die Zahl der Geflüchteten, die in der Pflege tätig sind, stieg demnach in den vergangenen Jahren deutlich an. Im Juni 2022 waren 20.000 Pflegekräfte aus einem der acht zuzugsstärksten Asylherkunftsländer in der Pflege tätig, vor der Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 waren es weniger als 2.000.

Der Ärzte-Appell ist nicht der erste Aufruf dieser Art. Anfang Februar hatte diese Redaktion den Aufruf der Nachkommen und Verwandten der deutschen Widerstandskämpfer in der NS-Zeit verbreitet: Zu den mehr als 280 Unterzeichnern des Appells gehören unter anderem die Nachfahren von Dietrich Bonhoeffer, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Carl Friedrich Goerdeler sowie von Freya und Helmuth James von Moltke.

Konkret fordern die Unterzeichner die Wählerinnen und Wähler auf, mit dem Stimmzettel dafür zu sorgen, dass bei den Europawahlen am 9. Juni nicht rechte Parteien „zu den Gewinnern in Europa“ zählen und dass auch die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen „nicht zugunsten der AfD ausgehen“.