Berlin. Bonhoeffer, Stauffenberg & Co: Mehr als 280 Nachkommen der Widerstandskämpfer in der NS-Zeit rufen jetzt zum Schutz der Demokratie auf.

Über zwei Millionen Menschen haben seit Mitte Januar in Deutschland gegen Rechtsextremismus demonstriert. 150.000 versammelten sich allein am Samstag in Berlin und zogen eine symbolische „Brandmauer“ gegen die Ultrarechten rund um das Reichstagsgebäude. Jetzt meldet sich ein weiteres eindrucksvolles Bündnis zu Wort, das an Wählerinnen und Wähler appelliert, mit dem Stimmzettel dafür zu sorgen, dass bei den Europawahlen am 9. Juni nicht rechte Parteien „zu den Gewinnern in Europa“ zählen und dass auch die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen „nicht zugunsten der AfD ausgehen“.

„Wir haben in Deutschland schon einmal erlebt, wohin das führen kann“

Es handelt sich um die Nachkommen deutscher Widerständler gegen Adolf Hitler, die mit dem gemeinsam unterzeichneten Appell Gesicht zeigen und unter Hinweis auf die Schicksale ihrer Vorfahren Parallelen ziehen von den aktuellen Ereignissen hin zur Zeit des Nationalsozialismus.

Den Text der Nachfahren im Wortlaut lesen Sie hier:Stauffenberg, Bonhoeffer & Co – Nachfahren mit starkem Appell

Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime: Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer und Helmuth James Graf von Moltke (von links)
Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime: Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer und Helmuth James Graf von Moltke (von links) © picture-alliance | Montage FMG

In dem Appell unter der Überschrift „Aus der Geschichte lernen, die Demokratie stärken!“ beklagen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, dass „in vielen Ländern Populisten und Feinde der Demokratie an Zustimmung“ gewinnen. Diese schürten „Ängste vor sozialem Abstieg, vor Fremden, vor allem Neuen“. In dem Appell heißt es wörtlich: „Wir haben in Deutschland schon einmal erlebt, wohin das führen kann. Es waren unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, die sich dem NS-Unrecht damals als Widerstandskämpfer entgegengestellt haben. Deshalb melden wir uns als Angehörige und Nachkommen heute zu Wort und fordern alle Mitbürger dazu auf, der neuen Rechte in unserem Land und europaweit die Stirn zu bieten“.

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Unterschrieben ist der Aufruf von über 280 Angehörigen und Nachkommen von deutschen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern aus allen politischen und weltanschaulichen Richtungen. Zu den bekanntesten zählt Karl Schenk Graf von Stauffenberg, der Enkel des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der nach dem gescheiteren Bombenanschlag in der „Wolfsschanze“ am 20. Juli 1944 noch in der Nacht im Hof des Berliner Bendlerblocks durch ein Erschießungskommando hingerichtet wurde.

Widerstandskämpfer aus allen politischen und weltanschaulichen Richtungen

Auch Hans Coppi, der Sohn von Hans und Hilde Coppi, die beide als Angehörige der sogenannten „Roten Kapelle“ in Plötzensee hingerichtet wurden, hat den Aufruf unterschrieben. Genauso Bärbel Schindler-Saefkow, die Tochter des Mitgründers der kommunistischen Widerstandsorganisation „Saefkow-Jacob-Bästlein“ Anton Saefkow, der Kontakt zu den Verschwörern des 20. Juli hielt und im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch das Fallbeil starb.

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Ebenso unterzeichnet hat Maria Theodora von den Bottlenberg-Landsberg, die Tochter des überzeugten Konservativen Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg, der wenige Tage vor Kriegsende in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 im Gefängnis Lehrter Straße erschossen wurde.

Auf der Liste der Unterzeichner finden sich auch viele Mitglieder der Familie Bonhoeffer-Dohnanyi, die mit dem Appell an das Schicksal des lutherischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, seines Bruders Klaus Bonhoeffer und seiner Schwäger Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher erinnern, die zu den Widerständlern des 20. Juli zählten und kurz vor Kriegsende ermordet wurden.

Unterzeichner kritisieren auch die etablierten Parteien

Auch die Nachkommen von Freya von Moltke und Helmuth James von Moltke sowie von Clarita und Adam von Trott zu Solz, die im „Kreisauer Kreis“ zivilen Widerstand gegen Hitler organisierten und mit hoher Intensität an einer post-nationalsozialistischen staatlichen Ordnung in Deutschland und Europa arbeiteten, appellieren an die Wählerinnen und Wähler wie auch Nachfahren von Carl Friedrich Goerdeler. Der ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig, der zu den unermüdlichen Motoren des bürgerlich-konservativen Widerstands gehörte, sollte nach Durchführung der „Operation Walküre“ Hitler als Reichskanzler folgen. Nach dem Scheitern der Verschwörung wurde Goerdeler im Berliner Gefängnis Plötzensee inhaftiert, gefoltert und am 2. Februar 1945 von einem SS-Kommando an einem Fleischerhaken gehängt.

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Die Unterzeichner des Appells kritisieren in ihrem Text ausdrücklich Politiker der AfD sowie die etablierten Parteien wegen ihres Unvermögens, den Höhenflug der Rechtsextremen zu stoppen und schreiben in diesem Zusammenhang wörtlich: „Wenn selbst Bundestagsabgeordnete von millionenfacher ‚Remigration‘ sprechen, wenn rechtsextreme Parteien in mehreren Bundesländern die Umfragen anführen und demokratische Parteien hilflos zwischen Anbiederung, abgrenzender Arroganz und Verbotsfantasien schwanken, dann müssen bei allen Anhängern der offenen Gesellschaft die Alarmglocken schrillen“.

Dringende Mahnung: „Lasst uns aus der Geschichte lernen“

Die Nachfahren der Widerständler loben die Demonstrationen gegen Rechtsextremsten als ein „ermutigendes Zeichen“, sind aber der Auffassung, dass „Demonstrationen allein nicht ausreichen“. Denn „demokratische Strukturen und Institutionen können zusammenbrechen, wenn die Bürger nicht hinter ihnen stehen und sie bewahren helfen. Wir brauchen ein stärkeres Engagement der Demokratinnen und Demokraten“. Wichtig sei es, „wählen zu gehen“. Man beobachte dabei im Vorfeld der Europawahl „mit Sorge, dass die demokratischen Parteien bisher zu wenig Wahlkampf betreiben.“

Der Appell schließt optimistisch mit dem Satz: „Wir sind überzeugt, dass es eine gute Zukunft geben kann – wenn wir es schaffen, gemeinsam daran zu arbeiten. Lasst uns aus der Geschichte lernen und die Demokratie stärken“.