Tel Aviv. Könnten jüdische Siedler den Gazastreifen übernehmen? Rechte Politiker liebäugeln mit der Idee – und knüpfen damit an alte Zeiten an.

Eine massenhafte Vertreibung der palästinensischen Einwohner aus dem Gazastreifen und eine Besiedlung durch Israelis sei „das Gebot der Stunde“, sagte Israels Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, am Sonntag. Ben Gvir bekräftigte damit, was er schon zuvor gesagt hatte und was bei der US-Administration für einigen Unmut gesorgt hatte. Der rechtsextreme Politiker wählte für seine Äußerung wohl nicht zufällig jenen Zeitpunkt, an dem sich der US-amerikanische Außenminister Antony Blinken in der Region aufhielt. Auch Außenministerin Annalena Baerbock ist erneut in die Krisenregion gereist.

Die Idee einer jüdischen Besiedelung des Gazastreifens ist nicht einfach nur die größenwahnsinnige Träumerei einer radikalen Rechten. Wer von jüdischen Siedlungen in Gaza spricht, spielt auf der emotionalen Klaviatur vieler Israelis. Er ruft eine kollektive Erinnerung wach, die von vielen Rechtsgesinnten in Israel als traumatisch bezeichnet wird: die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen im Jahr 2005 – von manchen in Israel auch „die Massenvertreibung“ genannt.

Binnen acht Tagen wurden damals rund 9000 Israelis aus ihren Häusern in den 21 Siedlungen im Gazastreifen evakuiert, die Siedlungen wurden mit Bulldozern zerstört. Der rechtskonservative Ministerpräsident Ariel Sharon hatte den Plan eines freiwilligen Abzugs Israels aus dem Gazastreifen entwickelt, im Parlament war der Plan angenommen und vom Obersten Gerichtshof für rechtskonform erklärt worden.

Israel gab Gazastreifen auf – aus wohlüberlegten Gründen

Unter rechten Israelis bildete sich damals eine Protestbewegung, die auch zu gewaltsamen Mitteln griff, um ihren Widerstand gegen den Abzug zu demonstrieren. Viele der heutigen Verfechter der Wiederbesiedlung Gazas gehörten dieser Bewegung an. Sie verklären die 21 Siedlungen, die in Israel Gush Katif – wörtlich „Ernteblock“ – genannt werden, als Inbegriff des national-zionistischen Traums, und stellen sich als Vorkämpfer für die Verwirklichung dieses Traums dar.

Israels Regierung führte für den Abzug aus dem Gazastreifen aber handfeste militärische Gründe ins Treffen. Sharons Kabinett sah es langfristig als teuer, ineffizient und gefährlich an, die Siedlungen in Gaza weiter aufrechtzuerhalten und mit viel militärischer Präsenz zu bewachen. Man beschloss, sich auf die Siedlungen im Westjordanland zu konzentrieren, die anders als der periphere Gush Katif gut an die Hauptstadt Jerusalem angebunden sind. Das sei im Sinne der nationalen Sicherheit, argumentierte Sharon. Die Gegner des damaligen Abzugs aus Gaza wenden ein, dass man damit der Hamas ein Geschenk gemacht habe – und dass die Terroristen das Zugeständnis der Israelis schamlos ausnutzten, um militärisch aufzurüsten und Israels Zivilbevölkerung anzugreifen. Dieses Lager fühlt sich vom brutalen Überfall der Hamas am 7. Oktober in seiner Ansicht bestätigt.

Das besetzte Westjordanland wird immer wieder zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern.
Das besetzte Westjordanland wird immer wieder zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. © Nasser Ishtayeh/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa | Unbekannt

Auch die Befürworter des Rückzugs finden in der Katastrophe des 7. Oktober Indizien, dass sie richtig lagen. Israels Armee hat heute nämlich jede Menge zu tun, um die Siedlungen und die stetig anwachsende Anzahl neuer illegaler Outposts radikaler junger Siedler im Westjordanland zu bewachen. Beim Überfall der Hamas zeigte sich, dass dieses massive Engagement im Westjordanland für die Menschen in Israel zum Bumerang werden kann: Anstatt die Kibbuzim im Süden vor den Terroristen zu beschützen, waren wichtige Armeeeinheiten im Westjordanland stationiert. Eine Wiederbesetzung des Gazastreifens würde dieses Problem nur noch verschärfen. Dazu kommt, dass selbst die engsten Verbündeten Israels – auch Deutschland – eine längerfristige Okkupation des Gazastreifens durch Israel keinesfalls tolerieren würden. Eine schwere Belastung der diplomatischen Beziehungen wäre die Folge.

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Israel: Erste juristische Schritte gegen Besetzung des Gazastreifens

Massenvertreibungen im Gazastreifen wären zudem nicht nur ethisch problematisch, sondern auch juristisch als Kriegsverbrechen zu werten. Schon jetzt muss sich Israel wegen des anhaltenden Beschusses und der Blockade des Gazastreifens juristisch verantworten. Südafrika hatte beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag – nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Strafgerichtshof – eine Sachverhaltsdarstellung eingebracht, in der Israel das Verbrechen des Völkermords vorgeworfen wird. In dem Schreiben argumentiert die Regierung in Pretoria, dass Israels Kriegshandlungen den Tod „eines substanziellen Teils der Bevölkerung“ in Gaza zur Folge hätten. Israel weist das vehement zurück. Auch die USA haben sich zu der Causa negativ geäußert: Die Anschuldigungen seien „kontraproduktiv und entbehren jeder Grundlage“, sagte ein Sprecher des Weißen Hauses.

Sollte das Tribunal sich von den Argumenten Südafrikas überzeugen lassen, könnte es Israel eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verordnen. Effektiv durchsetzbar wäre eine solche Anordnung aber nicht.

Auch in Israel regt sich immer mehr offener Protest gegen die Rufe nach ethnischer Säuberung, Massenvernichtung und Okkupation im Gazastreifen. Ein Komitee prominenter Israelis, darunter ehemalige Parlamentarier, Botschafter und Generäle, hat nun die Generalstaatsanwaltschaft in Jerusalem aufgerufen, Politiker wie Ben Gvir und andere Aufhetzer wegen öffentlichen Aufrufs zur Begehung einer Straftat zu verfolgen. In dem Aufruf findet sich eine akribische Auflistung getätigter Aussagen. Dieses Schreiben könnte auch im aktuellen Verfahren in Den Haag Beachtung finden.