Berlin. Die Gegenoffensive der Ukraine sind zu einem zähen Abnutzungskrieg geworden. Warum es dennoch zu früh ist, vom Scheitern zu sprechen.

Auf den ersten Blick scheint die Gegenoffensive der Ukraine zu einem zähen Abnutzungskrieg geworden zu sein. Knapp zwei Monate nach ihrem Beginn ist es den Streitkräften lediglich gelungen, rund 240 Quadratkilometer zurückzuerobern. Die Erfolgsmeldungen des ukrainischen Militärs und der politisch Verantwortlichen in Kiew muten deswegen wie trotziger Zweckoptimismus an.

Einige westliche Analysten sprechen bereits von einem Scheitern. Doch das ist verführt, auch wenn bislang lediglich einige taktische, aber keine operativen Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielt werden konnten.

Gegenoffensive der Ukraine: Russische Streitkräfte verlieren schweres Gerät

Aktuell geht die Gegenoffensive aber in die nächste Phase. Nachdem die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Wochen nur sehr langsam und abtastend vorgegangen sind, um Schwachstellen in der russischen Verteidigung zu finden, was aber trotzdem an vielen Frontabschnitten gleichbedeutend mit intensiven und blutigen Gefechten war, sind jetzt die Voraussetzungen für größere Angriffe geschaffen.

Insbesondere bei Bachmut im Osten und im Süden an der Saporischschja-Front bei Robotyne sowie der Donezk-Front bei Staromajorske haben sich die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen in günstige Positionen gebracht, um Durchbruchsversuche starten zu können. Die Ukrainer haben es geschafft, das bei Angriffsoperationen übliche negative Zahlenverhältnis zwischen eigenen Verlusten und den Verlusten des Gegners umzukehren: Die russischen Streitkräfte verlieren derzeit erheblich mehr schweres Gerät als die ukrainischen. Zudem sind in den vergangenen Wochen immer wieder russische Munitions- und Treibstoffdepots sowie Logistik-Wege zerstört worden.

Eroberung von Bachmut wäre psychologisch wichtig

Reporter Jan Jessen ist regelmäßig in der Ukraine unterwegs.
Reporter Jan Jessen ist regelmäßig in der Ukraine unterwegs. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Schaffen es die Ukrainer, die russischen Streitkräfte aus dem völlig zerstörten Bachmut zu vertreiben, wäre das ein enormer psychologischer Schlag für Moskau. Ein erfolgreicher Vorstoß Richtung Süden nach Melitopol oder Berdjansk würde die Versorgung der russischen Truppen im besetzten Süden massiv erschweren und die Krim in Schussweite der ukrainischen Artillerie bringen. Die nächsten Tage und Wochen werden vorentscheidend für den Ausgang dieses Krieges sein.

Große und sichtbare Erfolge auf dem Schlachtfeld wie die im vergangenen Herbst sind für Kiew enorm wichtig, um weiterhin im politischen Raum Unterstützung zu bekommen. Bleiben diese Erfolge aus, wird das nicht nur Auswirkungen auf die Moral der Bevölkerung in der Ukraine haben. Es wird bei den westlichen Partnern auch zwangsläufig die Frage aufkommen, ob weitere Waffenlieferungen zur Fortführung des Krieges sinnvoll sind oder nicht doch eine Lösung am Verhandlungstisch gefunden werden muss, was aber lediglich gleichbedeutend mit einem Einfrieren des Konfliktes wäre.

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Angriffe auf Ziele in Russland sollen Wehrhaftigkeit signalisieren

Speziell im wichtigsten Partnerland Kiews, den USA, schließt sich das Zeitfenster absehbar, stehen dort doch im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen an, deren Ausgang ungewiss ist. Spektakuläre ukrainische Angriffe auf Ziele in Russland wie die Attacke gegen die russischen Kriegsschiffe im Schwarzmeer-Hafen von Nowrossijsk dienen nicht nur der Verunsicherung der russischen Invasoren, sondern sollen der eigenen Bevölkerung Wehrhaftigkeit signalisieren und zugleich den westlichen Partnern die eigene Entschlossenheit demonstrieren.

Noch haben die ukrainischen Streitkräfte zwei oder drei Monate Zeit, ehe das regnerische Herbstwetter einsetzt. Noch haben sie große Reserven, die sie in den Kampf schicken können.

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