Berlin. Die Gegenoffensive der Ukraine kommt kaum voran. Doch es ist zu früh, von einem Scheitern zu reden. Tokmak könnte der Schlüssel sein.

Seit einigen Tagen erscheint das Kriegsgeschehen in der Ukraine auf den ersten Blick wie eingefroren. Keine der beiden Seiten kann größere Erfolge an den Fronten im Süden und Osten vermelden. Die ukrainische Gegenoffensive entfaltet nicht die Wucht, die sich Kiew und die westlichen Partner durch die Lieferung moderner Waffensysteme erhofft hatten. Lediglich bei Bachmut im Osten und in der Region Saporischschja im Süden vermeldet der ukrainische Generalstab kleinere Geländegewinne.

Die Gründe dafür sind benannt worden: Moskau wirft enorme Reserven an die Front, die russischen Verteidigungslinien sind in den Monaten vor der Offensive gut ausgebaut worden. Die ukrainischen Streitkräfte haben ihre Taktik nach den ersten Misserfolgen umgestellt und setzen nun darauf, mit kleinen Trupps die russische Verteidigung Meter für Meter aufzuweichen und die russischen Nachschublinien mit präzisen Artillerieschlägen zu zerstören. Offenbar sind sie damit erfolgreich.

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Dafür spricht die Abberufung des russischen Generalmajors Iwan Popow, der die im Süden kämpfende 58. Armee befehligte und halböffentlich über enorme Verluste durch das ukrainische Artilleriefeuer klagte. Der General gilt als beliebt bei seinen Soldaten, seine Abberufung wurde in russischen Militärblogger-Kreisen als Schlag für die Moral der Truppen heftig kritisiert. Auch die kurz darauf erfolgte Abberufung des Generalmajors Wladimir Seliverstow, bisher Befehlshaber der 106. Garde-Luftlandedivision bei Bachmut, wird Auswirkungen auf die Moral der kämpfenden russischen Soldaten haben.

Zustand russischer Armee stärkt Kampfmoral der Ukrainer

Die beiden Personalien zeigen den fragilen Zustand, in dem sich die russischen Streitkräfte nach dem Aufstand der Wagner-Söldner unter Jewgeni Prigoschin befinden. Ein Militär, das sich in internen Kämpfen zerfleischt, und weniger erfahrene Kommandeure an die Front schicken muss, macht Fehler – zumal, wenn die eigenen Truppen verunsichert sind und nicht wissen, wofür sie eigentlich kämpfen und sterben.

Reporter Jan Jessen war mehrmals in der Region Cherson und auch bei Bachmut unterwegs.
Reporter Jan Jessen war mehrmals in der Region Cherson und auch bei Bachmut unterwegs. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Das stärkt wiederum das Selbstbewusstsein und die Moral der ukrainischen Streitkräfte, die noch immer nur etwa ein Viertel der neu gebildeten Brigaden für die Gegenoffensive eingesetzt haben. Für dieses Selbstbewusstsein spricht auch, dass der ukrainische Befehlshaber Walerij Saluschnyi nun öffentlich Luftschläge gegen militärische Einrichtungen auf russischem Territorium einräumt. Bislang hatten die Ukrainer zu diesen Angriffen aus Rücksicht auf die westlichen Partner geschwiegen.

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Es genügt ein kleiner Riss, um große Gewinne zu machen

Je erfolgreicher die ukrainischen Streitkräfte bei der Zerstörung russischer Militärbasen, Waffendepots und Treibstofflagern dies- und jenseits der Grenze sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen in den kommenden Wochen ein Durchbruch an einer der Fronten im Süden und Osten gelingt. Dass sich das Kriegsgeschehen innerhalb weniger Tage dramatisch verändern kann, hat der vergangene Herbst gezeigt, als die Ukrainer große Geländegewinne im Nordosten bei Charkiw und im Süden bei Cherson machen konnten.

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Das ist vergleichbar mit dem Bruch eines Staudamms. Ein kleiner Riss an der richtigen Stelle kann durch die Wassermassen zu einem gewaltigen Loch werden, durch den die Fluten unaufhaltsam strömen. Können die ukrainischen Streitkräfte die russischen Verteidigungslinien etwa bei Saporischschja überwinden und Tokmak einnehmen, stünde ihnen der Weg in den Süden nach Melitopol und Berdjansk offen.

Dann könnten sie einen Keil zwischen die russischen Truppen treiben, die Versorgung der Besatzer im Süden würde erheblich erschwert. Sollte es den Ukrainern gelingen, die so lange umkämpfte Stadt Bachmut zu befreien, wäre das ein psychologischer Schlag, von dem sich Moskau nur schwer erholen würde. Noch ist es jedenfalls definitiv zu früh, von einem Scheitern der Gegenoffensive zu sprechen.

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