Moskau. Putins härtester Kritiker Alexej Nawalny wurde am Freitag zu 19 Jahren Haft im Straflager verurteilt. Er will sich aber nicht aufgeben.

Es gibt Worte, die Alexej Nawalny im Straflager nicht mehr laut aussprechen darf. „Hütte“ zum Beispiel. Oder „Dach“. Das berichtet das Onlinemedium Medusa. Weil er einmal „Dach“ sagte, habe er von seinen Bewachern schon einen Verweis erhalten. Es gebe eine Gefängnisregel, nach der man keine „in einem kriminellen Umfeld akzeptierten Wörter und Ausdrücke“ verwenden dürfe. Es existiere eine Liste der verbotenen Wörter. Diese sei dem Straflager bereits 1983 vom Innenministerium der damaligen Sowjetunion übermittelt worden und sei seitdem geheim, so Medusa. Es ist eine absurde Schikane, die zermürbt, die krank macht. Nawalnys Anwälte klagen nun vor dem Obersten Gerichtshof Russlands gegen das Sprechverbot.

Doch erstmal steht ein anderes Urteil an. Alexej Nawalny, der bekannteste Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin, ist bereits zu neun Jahren Haft verurteilt und sitzt im Straflager Melechowo. Am Freitag wurde der 47-Jährige obendrein zu weiteren 19 Jahren Haft im Straflager verurteilt – diesmal wegen Extremismus.

Alexej Nawalny kommt immer wieder in Isolationshaft

Nawalny lebt unter „strengem Regime“. Im Vergleich zu einem normalen Straflager bedeutet dies verschärfte Haftbedingungen: weniger Besuche, weniger Briefe und Pakete, Verkürzung der täglichen Spaziergänge im Freien. Doch damit nicht genug. Derzeit sitzt der Kremlkritiker, den viele als politischen Gefangenen sehen, zum 17. Mal in Isolationshaft. Dort gibt es gar keine Besuche.

Er lebe in einer eigens umzäunten Holzbaracke, so hat Alexej Nawalny selbst seine Haftbedingungen beschrieben. Immer wieder komme er in Isolationshaft, wegen geringster Vergehen gegen die Lagerordnung, sagt er. Etwa, weil er sich zur falschen Zeit das Gesicht gewaschen habe. Nawalnys Tochter Dascha berichtet: „Die ‚Wohnstätte‘ meines Vaters ist eine zwei mal zwei Meter große Strafzelle, die für einen zwei Meter großen Mann eher wie ein Betonkäfig aussieht. Er sitzt den ganzen Tag auf einem niedrigen Eisenstuhl (was die Rückenschmerzen verstärkt). Sogar sein Bett ist von 6 bis 22 Uhr an die Wand geschraubt.“

Erwartet eine neue lange Haftstrafe: Alexei Nawalny.
Erwartet eine neue lange Haftstrafe: Alexei Nawalny. © AFP | NATALIA KOLESNIKOVA

Nawalny-Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Für viele weitere Jahre wird Nawalny wohl so leben müssen, wie das Urteil vom Freitag zeigt. Die Staatsanwaltschaft in Russland hatte weitere 20 Jahre Straflager beantragt. 3800 Blatt Material haben die Staatsanwälte zusammengetragen. Insgesamt wurde über sieben Anklagepunkte verhandelt, darunter Gründung und Finanzierung einer extremistischen Organisation sowie sogar Verharmlosung des Nationalsozialismus.

Mit „extremistischer Organisation“ ist der von Nawalny gegründeten Fonds für die Bekämpfung der Korruption (FBK) gemeint. Der FBK hat eine Reihe von Indizien zu Korruption auf oberster politischer Ebene bis hin zu Präsident Wladimir Putin veröffentlicht. Inzwischen wurde der Fonds für extremistisch erklärt. Vom gleichen Moskauer Stadtgericht, vor dem der Prozess gegen Nawalny nun stattfand.

Es sei eine politische Inszenierung, weist Nawalny die Vorwürfe zurück. Der Prozess wurde nicht in einem Moskauer Gerichtssaal, sondern in der rund 260 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Strafkolonie abgehalten – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Die Ärzte in Berlin kämpften um sein Leben

Weltbekannt ist Alexej Nawalny, seit er im Sommer 2020 bei einer Reise nach Sibirien mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Er flog in einer Linienmaschine von Tomsk im Westen Sibiriens in Richtung Moskau. Plötzlich verlor er das Bewusstsein. Sein Leben verdankt er wohl einem beherzten Piloten, der zur Notlandung auf dem Flughafen von Omsk ansetzte.

Das Foto vom 15. September 15 zeugt Alexej Nawalny mit seiner Familie in der Berliner Charité. Tagelang hatten die Ärzte dort um das Leben des Kremlkritikers gekämpft.
Das Foto vom 15. September 15 zeugt Alexej Nawalny mit seiner Familie in der Berliner Charité. Tagelang hatten die Ärzte dort um das Leben des Kremlkritikers gekämpft. © AFP | Handout

Zwei Tage wurde Nawalny dort behandelt, bevor er auf Druck seiner Familie in die Berliner Charité verlegt wurde. Dort kämpften die Ärzte tagelang um sein Leben, nach 32 Tagen konnte Nawalny das Krankenhaus verlassen. Putin härtester Widersacher wirft dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB vor, hinter der Vergiftung zu stecken. Der Kreml weist die Vorwürfe zurück. Nawalny hätte im Ausland bleiben können, er wollte aber nicht. Gleich nach Landung in Moskau wurde festgenommen.

Nawalny legte sich mit den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft an

Nowitschok ist einer der stärksten Giftkampfstoffe, den es gibt. Bei Hautkontakt wirkt bereits ein Milligramm tödlich. Und es ist kein Allerwelts-Gift, nur ein ausgewählter Kreis von Menschen aus Militär und Geheimdiensten hat Zugang. Doch wer den Kreml-Kritiker nun wirklich ermorden wollte, das bleibt im Dunklen. Nawalnys großes Thema ist die Korruption im Land. Er hat sich viele Feinde gemacht, legte sich mit Oligarchen an, den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft.

Politisch war Nawalnys Karriere eher wechselhaft. Einige Jahre lang arbeitete er in der Oppositionspartei Jabloko, wegen nationalistischer Äußerungen musste er diese jedoch verlassen. Berühmt wurde ein Video, von dem er sich heute distanziert. Er setzte kaukasische Terroristen mit „Kakerlaken“ gleich. 2011 gründete er den FBK, seinen Fonds zur Korruptionsbekämpfung. Und 2013 kam er bei der Moskauer Bürgermeisterwahl auf respektable 27 Prozent der Stimmen.

Wenige Tage nach der Festnahme veröffentlichte Nawalnys Team im Netz den Film „Ein Palast für Putin“, der über 100 Millionen Mal angeklickt wurde. 112 Minuten, von Nawalny glänzend moderiert – eine akribische Recherche, gespickt mit Fakten. Doch dass das Märchenschloss am Schwarzen Meer wirklich „Putins Palast“ ist, das kann er nicht beweisen.

Dascha ist stolz, Nawalnys Tochter zu sein

Das Leben im Straflager, mit der Aussicht auf weitere Jahrzehnte, zermürbt Alexej Nawalny immer mehr. Sein Körper ist durch den Giftanschlag geschwächt, selbst an sich harmlose Erkältungserkrankungen können ihm gefährlich werden. Er leide unter „Krisen“, so sein Anwalt im April 2023, als nach heftigen Magenschmerzen der Notarzt gerufen werden musste. Medikamente, die Nawalnys Mutter schicke, gebe die Gefängnisleitung nicht weiter, so der Vorwurf des Anwalts. Auf Videoaufnahmen kann man sehen, wie abgemagert Nawalny ist.

Große Sorgen macht sich auch seine Tochter Dascha, die in den USA studiert. Im US-Nachrichtenmagazin „Time“ fordert sie die Freilassung ihres Vaters. „Die Bedingungen der Einzelhaft, denen er jetzt unterworfen ist, zielen eindeutig darauf ab, ihn psychisch zu brechen.“ Ihr Vater sei nicht nur ein entschlossener und charismatischer Anführer, sondern auch „ein lustiger, fürsorglicher und unglaublicher Vater“. Sie sei stolz darauf Alexej Nawalnys Tochter zu sein.

Nawalny und sein Team wollen weiter machen

Auch in Haft bleibt Nawalny unbequem für Putin, er gilt als einer der einflussreichsten Oppositionellen. Dass er nicht ins Ausland geflohen ist, dass er die Erniedrigungen und Gefahren im Gefängnis auf sich nimmt, dass er seine Freiheit aufgegeben hat, verschafft ihm moralisches Kapital, dessen Wert noch nicht absehbar ist.

Und Nawalny und sein Team wollen weiter machen: Erst im Juni hatte Nawalny eine neue Kampagne angekündigt. „Wir werden einen Wahlkampf gegen den Krieg führen.“ Zum 20. August, dem dritten Jahrestag seiner Vergiftung, planen Nawalnys Mitarbeiter weltweiten Protest. Aktivisten werden gebeten, Videos mit dem Satz „Putin ist ein Mörder“ aufzunehmen. Nawalny ist keiner, der Ruhe gibt.

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