Moskau. Dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny droht im Straflager, was viele Häftlinge erlebt haben: Schläge, Erniedrigung bis hin zu Folter.

Das Video ist etwas verwackelt – und zeigt dennoch rohe Gewalt. Gefängniswärter prügeln brutal auf zwei fast nackte Häftlinge ein. Einer der beiden Männer soll nach der Misshandlung im Krankenhaus gestorben sein. Die kremlkritische Zeitung „Nowaja Gaseta“ schreibt, die Aufnahmen seien in den Jahren 2016 und 2017 im Straflager IK-1 in Jaroslawl rund 250 Kilometer nordöstlich von Moskau entstanden. Eine Menschenrechtsorganisation soll sie den Journalisten zugespielt haben.

Der Busfahrer und frühere Unternehmer Ruslan Wachapow erinnert sich mit Grauen an seine Ankunft im Straflager in Jaroslawl vor acht Jahren. „In den ersten eineinhalb Stunden prügelten sie auf mich ein. Angeblich hatte ich es verabsäumt, mich in ein Brandschutzbuch einzutragen. Sie verdroschen mich mit hölzernen Schreinerhämmern.“ Viele Neuankömmlinge hätten dies durchgemacht.

Folter, Schläge und Todesfälle gehören in Straflagern wohl zum Alltag

Menschenrechtler haben nun Angst, dass es Russlands prominentestem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ähnlich ergehen könnte. Der 44-Jährige wurde am Donnerstag aus einem Untersuchungsgefängnis in Moskau in ein Straflager verlegt. Niemand weiß allerdings, in welchem Lager er sich befindet, nicht einmal seine Familie. Am vergangenen Samstag hatte ein Gericht Nawalnys Verurteilung zu rund zweieinhalb Jahren Straflager bestätigt. Die russische Justiz wirft ihm einen Verstoß gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren vor, während er sich in Deutschland von einem Giftanschlag auf ihn erholt hatte.

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In den rund 600 Straflagern in Russland herrschen extreme Bedingungen. „Folter, Schläge und Todesfälle“ gehörten dort zum Alltag, berichtete die Aktionskünstlerin Nadeschda Tolokonnikowa von der feministischen Musikband Pussy Riot. Sie wurde mit ihrer Kollegin Maria Aljochina 2012 zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie in einem „Punkgebet“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale gegen Putin protestiert hatte.

Oppositionsführer Alexej Nawalny steht in einem Käfig im Babuskinsky Bezirksgericht.
Oppositionsführer Alexej Nawalny steht in einem Käfig im Babuskinsky Bezirksgericht. © dpa | Alexander Zemlianichenko

Lager sind von hohen Mauern umgeben

Die Lager werden meist in einem unzugänglichen Gebiet hochgezogen und sind von hohen Mauern mit Stacheldraht umgeben. Mehrere Hundert Häftlinge hausen in Holz- oder Ziegelbaracken, wo 50 bis 100 Männer oder Frauen untergebracht sind. Alle schlafen in einem Saal mit Stockbetten. Pro Baracke stehen ein bis zwei Toiletten außerhalb des Gebäudes zur Verfügung.

Es gibt vier Kategorien von Lagern. Im „leichten“ Strafvollzug handelt es sich um Ersttäter, zum Beispiel Steuerhinterzieher. Der „sehr strenge“ Strafvollzug wird Terroristen oder Schwerverbrechern aus niedrigen Beweggründen verordnet. Nawalny soll laut Justizbehörden in die zweite Kategorie, den „normalen“ Vollzug, der für politische Gefangene oder Menschen mit Drogendelikten gilt.

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Was dort passiert, bekommt niemand mit

Doch egal welche Kategorie: Was in den Baracken passiert, bekommt niemand mit. Außerhalb der Gebäude sind Überwachungskameras angebracht, innen halten sich keine Wärter auf. „Wenn es eine Fehde unter den Insassen gibt, schaut von der Lagerverwaltung keiner hin. Schwere Misshandlungen sind möglich“, sagte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations unserer Redaktion.

Die Lagerleitung bestimme die Aufseher, die selbst Strafgefangene seien. „Sie kann Aufseher anweisen, Nawalny hart ranzunehmen, vielleicht sogar ihn zu töten.“ Es gehe darum, Menschen zu erniedrigen, sie zu brechen, erklärt der Schriftsteller Maxim Gromov, der drei Jahre gesessen hat. „Ständig fletschen dich Wachhunde an, vor jedem Offizier musst du die Mütze ziehen, vom Prügeln ganz zu schweigen.“

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300.000 Häftlinge sind in russischen Straflagern

Straflager in Russland.
Straflager in Russland. © imago images/ITAR-TASS | Musa Salgereyev via www.imago-images.de

Rund 300.000 Häftlinge sind in den Straflagern untergebracht. Der Tagesablauf ist eine Abfolge von Drillübungen. Sechs Uhr wecken, danach Frühsport und Frühstück, Morgenappell, Arbeiten – oft Nähen, Metall- und Holzverarbeitung oder Schlüsseldienst, Mittagessen, Arbeiten, Abendessen, Erziehungsmaßnahmen, Bettruhe ab 23 Uhr. Populäre politische Gefangene haben es leichter, heißt es. Sie werden von Rechtsanwälten und Menschenrechtlern besucht, Intellektuelle schreiben ihnen Briefe.

Nawalny dürfte ähnliche Vorteile genießen. Aber eine Garantie ist das nicht. Vieles dürfte von der Reaktion der internationalen Öffentlichkeit abhängen. „Wenn die Aufmerksamkeit hoch bleibt und der Westen den Druck aufrechterhält, dürfte Nawalny im Lager nichts passieren“, betont der Russlandexperte Gustav Gressel. „Wenn die Aufmerksamkeit im Westen aber nachlässt, befürchte ich das Schlimmste für ihn.“

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