Berlin. Viele Viertklässler können nicht richtig lesen. Benachteiligt sind Kinder aus ärmeren Familien – oft, weil ihnen wenig zugetraut wird.

Wenn sich Hiobsbotschaften häufen, erwartet man normalerweise einen Aufschrei – und daraufhin ein Gegensteuern. Nicht so, wenn es um die Bildungspolitik in Deutschland geht. Vor 20 Jahren gab es den Pisa-Schock, an diesem Dienstag folgte ein weiterer Tiefschlag. Eine Gruppe von Autoren stellte die Ergebnisse der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) vor. Die Erkenntnis aus den Lesetests an Schülern im ganzen Land: Jeder vierte Viertklässler in Deutschland kann nicht richtig lesen.

25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe erreichen nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit und allgemein fürs Leben nötig sind. Besonders bedenklich ist, dass sich die Leistung der deutschen Schüler seit 20 Jahren nicht verbessert. Seit der ersten Studie 2001 ist die mittlere Lesekompetenz in Deutschland gesunken. Lesen Sie dazu den Kommentar: Pisa, Iglu – immer nur Studien. Wo bleibt der Aufschrei?

Schüler in Deutschland sind schlechter als die internationale Konkurrenz

Bei der letzten Iglu-Erhebung – Ende 2017 veröffentlicht – lag der Anteil der Schüler, die besonders schlecht lesen, noch bei 19 Prozent. Im internationalen Vergleich schneiden Grundschüler in Deutschland bei der Lesekompetenz schlechter ab als Gleichaltrige in vielen anderen Ländern.

Forscherin Nele McElvany, die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Katharina Günther-Wünsch (CDU), und Sabine Döring, Staatssekretärin aus dem Wissenschaftsministerium präsentieren die Iglu-Studie.
Forscherin Nele McElvany, die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Katharina Günther-Wünsch (CDU), und Sabine Döring, Staatssekretärin aus dem Wissenschaftsministerium präsentieren die Iglu-Studie. © imago/Future Image | IMAGO/Frederic Kern

Ein weiterer Befund, den die Wissenschaftler besonders hervorhoben: Soziale und migrationsbedingte Unterschiede in Deutschland konnten seit 20 Jahren nicht reduziert werden. Sie wirken sich stark auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit der Schüler aus. Es habe sich praktisch nichts verändert, sagte die Studienleiterin Nele McElvany von der Technischen Uni Dortmund.

Kinder aus ärmeren, nicht-deutschsprachigen Familien sind benachteiligt

Das dort ansässige Institut für Schulentwicklungsforschung hat 4600 Schüler aus 252 vierten Klassen in Deutschland getestet. Sie bekamen Sach- und Erzähltexte und dazu passende Verständnisaufgaben. Die Tests werden alle fünf Jahre durchgeführt. Nicht nur schafft es das Bildungssystem nach wie vor nicht, gleiche Chancen für alle unabhängig von Einkommen und Herkunft der Eltern zu schaffen, ein weiterer Nachteil kommt erschwerend hinzu: Kinder aus diesem Umfeld werden strukturell benachteiligt.

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„Die Übergangspräferenzen der Lehrkräfte und Erziehungsberechtigten am Ende der Grundschulzeit für ein Gymnasium stehen bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Fähigkeiten in substanziellem Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der Kinder“, heißt es in der Studie. Das heißt, dass Lehrer (aber auch die Eltern) ihre Kinder eher auf die Realschule oder sonstige weiterführende Schulen schicken statt aufs Gymnasium. Sogar dann, wenn die Kinder besser lesen als Klassenkameraden, die aus einem wohlhabenderen Elternhaus stammen, in dem überwiegend Deutsch gesprochen wird.

Grundschulempfehlung ist nicht bindend, Eltern stimmen trotzdem zu

Zwar ist die Grundschulempfehlung der Lehrer nur noch in Bayern, Brandenburg und Thüringen bindend – in den übrigen 13 Ländern können die Eltern entscheiden, an welcher Schule ihre Kinder weiterlernen. Wenn jedoch die Eltern eher zu Schulformen tendieren, die nicht unbedingt in eine Akademikerlaufbahn münden, dann ist das Problem des Arbeiterkinder-Mangels in den Universitäten hausgemacht.

Eine Lehrerin hat eine Mutter zusammen mit ihrem Sohn zum Gespräch in der Schule eingeladen. In vielen Bundesländern entscheiden die Eltern, auf welche weiterführende Schule ein Kind wechselt.
Eine Lehrerin hat eine Mutter zusammen mit ihrem Sohn zum Gespräch in der Schule eingeladen. In vielen Bundesländern entscheiden die Eltern, auf welche weiterführende Schule ein Kind wechselt. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Weitere Befunde verstärken die missliche Lage der Kinder: Wenn in den Familien überwiegend eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird, haben die Kinder laut Studienaussagen einen deutlichen Nachteil in der Schule. Sind in einer Familie mehr als hundert Bücher vorhanden, was von den Studienautoren mit einem besserem sozialen Status gleichgesetzt wird, bringt das einen Vorsprung in der Lesekompetenz.

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Auch wenn bei der Präsentation der Iglu-Studie die beteiligten Politikerinnen gerne die Corona-Pandemie als Quelle allen Übels angeführt hätten – sie ist es nicht: „Die Pandemie erklärt nur einen Teil des Leistungsabfalles, dieser Trend besteht seit 2006“, sagte die Dortmunder Professorin. Die Kinder lesen 60 Minuten weniger als im internationalen Schnitt (200 Minuten pro Woche), das lasse sich schwer aufholen, sagte McElvany. „Lesen muss geübt werden.“

Singapur hat Deutschland überholt, so hat es funktioniert

Was raten die Forscher also? Die Befunde anderer Teilnehmerstaaten mit besseren Ergebnissen zeigten, dass der Zusammenhang ärmeres und überwiegend nicht-deutschsprachiges Elternhaus gleich schlecht lesendes Kind „kein unausweichlicher Automatismus sind“, so die Autoren. Sie raten, die Grundschulen nicht mit Anforderungen zu überfrachten. Viel wichtiger sei „eine klare Prioritätensetzung auf die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen“. Dazu müsse die Unterrichtszeit mehr mit Lesen verbracht werden. Um Rückstände aufzuholen, brauche es Förderung in Kleingruppen und für einzelne Schüler.

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Katharina Günther-Wünsch, die aktuelle Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, sieht das Problem: „Die Lesezeit muss das zentrale Thema sein. Wir wollen die Programme, die es in den Ländern schon gibt, verstetigen und im Bildungsplan verankern.“ Außerdem sollen die Grundschullehrer fortgebildet werden. Dass diese Methode wirkt, zeigt Singapur, das 2011 noch schlechter abschnitt als Deutschland und nun an uns vorbeigezogen ist: Dort werden die Kinder beim Einstieg in die erste Klasse getestet.

Wenn sie bereits Rückstände haben – was bei etwa zwölf Prozent der Fall ist – werden sie ab der Einschulung gefördert. „Diese Diagnostik mit gezielter Förderung, das müsste in Deutschland systematischer sein“, sagte McElvany. Die KMK-Vorsitzende Günther-Wünsch kündigte an, dass die Politik etwas tun will, „aber solche Dinge brauchen etwas Zeit“. Die nächste Hiobsbotschaft kommt bestimmt.

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