Mexiko-Stadt. Schlangestehen als Vollzeitbeschäftigung. Präsident Diaz-Canel spricht von einem vorübergehenden Engpass. Doch das glaubt keiner mehr.

In Kuba weiß jeder, was der Ausdruck „Cola fantasma“ bedeutet. Es ist so etwas wie Schlangestehen für alle Fälle. Falls es dann mal Sprit gibt oder Hühnchen oder Klopapier oder irgendetwas von dem, was jede Kubanerin und jeder Kubaner braucht, aber was auf der kommunistisch regierten Karibikinsel manchmal so selten ist wie eine Schneeflocke. Schlangestehen ist für einen Großteil der elf Millionen Insulaner nahezu zu einer Vollzeitbeschäftigung geworden. Aber oft genug bleibt dann die angesagte Lieferung aus – ein Phantom eben.

Kuba leidet unter der schwersten sozioökonomischen Krise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor fast einem Vierteljahrhundert. Diese seit der Pandemie geltende Gewissheit verschlimmert sich immer weiter. Stromabschaltungen, Benzinknappheiten und Nahrungsmittelengpässe erinnern immer mehr an die frühen 1990er Jahre, als Revolutionsführer Fidel Castro nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die „Periodo especial“ ausrief. Damals hieß es, den Gürtel bis aufs letzte Loch zu schnallen. So ist es auch ein knappes Vierteljahrhundert später wieder. Nur haben die Menschen auf der Insel heute keine Geduld mehr und noch weniger Verständnis für die Regierung.

Kuba steht am Randes des Zusammenbruchs

Inflation, reduzierte Öllieferungen aus Venezuela, Devisen- und Nahrungsmittelnot, ausbleibende Urlauber, Misswirtschaft und das weiterhin gültige US-Wirtschaftsembargo sind ein toxischer Cocktail. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL kalkuliert das Wirtschaftswachstum der Insel dieses Jahr auf 1,8 Prozent.

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Die Regierung in Havanna aber behauptet unbeirrt, das Bruttoinlandsprodukt werde um drei Prozent wachsen. Dabei steht das Land am Rande des Zusammenbruchs. Vor allem die galoppierenden Preise und immer weniger Energiehilfen vom klammen Bruder aus Venezuela verschlimmern die Lage. Vergangenes Jahr gingen die Öllieferungen Venezuelas nach Kuba noch mal um sechs Prozent auf 53.600 Barrel pro Tag zurück, früher sandte Caracas mehr als das Doppelte.

Kuba: Nach Ostern standen die Autofahrer an den Tankstellen Schlange an

Gerade jetzt nach Ostern war es mal das Benzin, das es nicht gab. Und so brachen der Nahverkehr und das Transportwesen nahezu komplett zusammen. Autobesitzer und vor allem Taxifahrer standen und stehen tage- und nächtelang Schlange vor den Tankstellen der Hauptstadt Havanna in der Hoffnung, dass irgendwann mal ein Tanklaster kommt, der den ersehnten Sprit bringt.

Schlangestehen ist zur Vollzeitbeschäftigung in Kuba geworden.
Schlangestehen ist zur Vollzeitbeschäftigung in Kuba geworden. © AFP | Adalberto Roque

Aber immer weniger glauben den Worten von Präsident Miguel Díaz-Canel, dass das ein vorübergehender Engpass sei. Die Krise ist längst chronisch in Kuba. Die Inflation ist hoch, der Euro kostet auf dem Schwarzmarkt inzwischen 190 Peso, statt den 122 zum offiziellen Kurs. Und für ein staatliches Gehalt kann man nicht mal ganz den Kühlschrank füllen. Immer mehr Menschen haben genug und verlassen die Insel. Allein im vergangenen Jahr sollen gut 300.000 Kubaner und Kubanerinnen über Mexiko ohne Papiere in die USA eingereist sein. Im Jahr 2021 waren es noch 39.000.

Kubaner klagen: „Uns geht es so schlecht wie nie“

„Uns geht es so schlecht wie nie“, ist eine Klage, die man immer wieder hört auf der Insel. „Wenn es nicht am Spirit fehlt, dann gibt es keinen Strom, ist der mal da, gibt es nichts zu essen zu kaufen. Das ist zyklisch und unendlich“, sagt ein junger Mann, der nicht genannt werden möchte. Dabei sieht es in den Provinzen noch finsterer aus als in der Hauptstadt. Die Binnenmigration hat zu einer Überbevölkerung in Havanna geführt. Diejenigen, denen die Regierung keine Wohnungen zur Verfügung stellen kann, leben in „Albergues“, in verlassenen Gebäuden, die zu provisorischen Wohnungen umfunktioniert wurden. Andere leben in den alten sozialistischen Mietskasernen, die zum Teil vom Einsturz bedroht sind.

Miguel Diaz-Canel wurde für weitere fünf Jahre ials Staatschef von Kuba bestätigt.(Photo by Erika SANTELICES / AFP)
Miguel Diaz-Canel wurde für weitere fünf Jahre ials Staatschef von Kuba bestätigt.(Photo by Erika SANTELICES / AFP) © AFP | ERIKA SANTELICES

Trotz der Notlage hat das kubanische Parlament jetzt Miguel Díaz-Canel für eine weitere fünfjährige Amtszeit bestätigt. 2018 verknüpfte sich mit seiner Wahl die Hoffnung auf eine beschleunigte Öffnung und mehr Freiheiten. Aber der 63-Jährige entpuppte sich als „Bewahrer“ und nicht als „Reformer“. Kontinuität wurde zu seinem wichtigsten Leitprinzip und dem Motto der Regierung.

Havanna: Je tiefer die Krise, desto größer ist die Angst vor Veränderung

Heute, da die Insel eine der schlimmsten wirtschaftlichen und sozialen Krisen ihrer Geschichte durchlebt, zweifelt niemand daran, dass die kommenden fünf Jahre noch mehr Stillstand bringen werden. Je tiefer die Krise, desto größer ist die Angst vor Veränderung in der kommunistischen Führung.

Die Situation im Frühling 2023 ist besonders kompliziert für alle Menschen auf der Insel. Anhand des Tourismus, zweitwichtigste Devisenquelle der Insel, kann man sehen, wie wenig die Erholung gelingt. 2022 besuchten 1,04 Millionen Ausländer Kuba, 37,8 Prozent der Besucher des Jahres 2019. Das staatliche Ziel war es aber 2,5 Millionen ausländische Touristen anzulocken. Besonders das fast völlige Ausbleiben der Urlauber aus Russland seit dem Ukraine-Krieg und das deutlich reduzierte Aufkommen von US-Touristen trafen den Sektor hart. Die meisten Besucher kommen nach wie vor aus Kanada.

Für 2023 strebt das Tourismusministerium 3,5 Millionen Besucher an. Die Zahl scheint illusorisch, auch angesichts der angespannten Versorgungslage und den ständigen Stromausfällen und Spritknappheiten, die einen geplanten Luxus- oft zu einem Abenteuerurlaub machen. Das hat sich mittlerweile auch bei den Reiseveranstaltern rumgesprochen.

Ökonom über Kuba: „Es geht um Leben und Tod“

Abgesehen von den vielen kleinen Krisen und Mangelverwaltungen an unzähligen Stellen stimmen mehrere Ökonomen überein, dass die kubanische Krise strukturell ist und nicht konjunkturell. Es sei eine Krise des Systems, sagt etwa Pavel Vidal, der an der katholischen Javeriana-Universität im kolumbianischen Cali lehrt. Er fordert genau wie der Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny wirkliche Reformen und vor allem die Liberalisierung der Wirtschaft. Am System der Planwirtschaft und der Staatsbetriebe an zentralen Sektoren weiter herumzuflickschustern bringe langfristig keine Erleichterung. „Es geht um Leben und Tod, es ist eine Frage von höchster Priorität“, warnt Wirtschaftswissenschaftler Everleny.

Für Vidal führt der Weg aus der Krise über ein weitreichendes makroökonomisches Stabilisierungsprogramm, um die Inflation zu stoppen und ein günstigeres Szenario für das Wirtschaftswachstum zu schaffen. „Dies muss Sparmaßnahmen und Änderungen in der Geld- und Wechselkurspolitik, aber auch strukturelle und institutionelle Veränderungen umfassen.“

Nicht wenigen halten das „System Kuba“ für nicht reformierbar

Laut Everleny wurde vor zwei Jahren zwar „endlich das Gesetz verabschiedet“, das die Gründung von mehr als 7000 kleinen und mittleren Privatunternehmen ermöglichte, die auch mittlerweile knapp 200.000 Menschen in Lohn und Brot gebracht haben. Aber damit diese privaten Kleininitiativen zu einem dynamischen Faktor werden, müssten Hindernisse wie hohe Steuern und übermäßige Bürokratie beseitigt werden. Zudem brauche es einen offiziellen Devisenmarkt, der es neuen Unternehmern ermöglicht, sich das Geld zu besorgen, das für den Betrieb eines Unternehmens nötig ist.

Andere Experten hingegen halten das „System Kuba“ für nicht reformierbar und dem Untergang geweiht. Entweder durch sozialen Protest wie im Sommer 2021, der irgendwann doch zu einem „Regimechange“ führen könnte oder durch Auswanderung. Allein in den vergangenen rund fünf Jahren hat ein Zehntel der Bevölkerung das Land verlassen. Und es gehen nicht die Alten und Kranken, sondern die Jungen, die gut Gebildeten, die für sich keine Perspektive mehr auf der Insel sehen.

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