Berlin. Erstmals steigt die Zahl der Straftaten in Deutschland wieder an. Das kann auch daran liegen, dass mehr Menschen Kriminalität anzeigen.

Viele Jahre gab es nur einen Trend: Die Kriminalität in Deutschland ging in der Summe der Delikte zurück – darunter auch die Gewalttaten. Immer gab es auch Verbrechen, die anwuchsen, etwa beim Betrug im Internet. Doch die Botschaft war: Deutschland ist sicher.

Noch immer liegt die Zahl der Gesamtstraftaten deutlich unter dem Niveau der Jahre 2000 oder 2010. Der Trend der rückläufigen Delikte hat jedoch einen leichten Bruch bekommen. 2022 ermittelte die Polizei bundesweit in insgesamt 5.628.584 Fällen eine oder einen Tatverdächtigen – ein Anstieg von 11,5 Prozent im Vergleich zu 2021. Am Donnerstag stellten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, die Polizeiliche Kriminalstatistik in Berlin vor.

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Allerdings hat die Statistik Tücken, denn in den Corona-Jahren war die Situation mit Lockdown, geschlossenen Bars und Diskotheken sowie Schulschließungen besonders. Aber auch im Vergleich zu 2019 – dem letzten Jahr vor der Pandemie – zeigt sich ein Anstieg. Jedoch nur noch ein leichter, um gut drei Prozent.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). © dpa | Wolfgang Kumm

Anstieg bei Asyl-Verstößen und Wirtschaftskriminalität

Besonders stark angestiegen sind Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, hier ist relevant, dass die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland 2022 infolge des Ukraine-Krieges angestiegen ist. Aber auch die Wirtschaftskriminalität wächst. Die Zahl der gemeldeten Raubdelikte und der Bedrohungen hat ebenfalls zugenommen, was durchaus mit einem Ende der Lockdowns zusammenhängen kann. Wer die ganze Zeit zuhause ist, wird auch nicht ausgeraubt.

Ein Abwärtstrend zeigt sich bei Internetdelikte. Hatte es bei Online-Betrug und Computer-Sabotage in den vergangenen Jahren immer einen deutlichen Anstieg gegeben, sinken die Zahlen nun – auch wenn die Cyberkriminalität weiter auf einem hohen Niveau bleibt. Denn mehr Menschen nutzen Online-Händler und mehr Menschen gebrauchen Computer und Smartphones als noch vor zehn Jahren. Darauf richten sich auch organisierte Kriminelle ein. Zugleich registriert die Polizei viele Delikte in diesem Bereich nicht für die Statistik – etwa, wenn die Täter im Ausland sitzen.

Mehr Tatverdächtige – auch unter den Zuwanderern

Nicht nur die Zahl der Straftaten, sondern auch die Anzahl der Tatverdächtigen liegt 2022 mit insgesamt gut zwei Millionen höher als im Vorjahr – ein Anstieg um etwa zehn Prozent. 1.309.906 Tatverdächtige waren deutsche Staatsangehörige (+4,6 Prozent), 783.876 der Tatverdächtigen besaßen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit (+22,6 Prozent). Bei den Ausländern kommen jedoch auch Straftaten hinzu, die von Deutschen nicht begangen werden können: etwa ein Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht.

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Doch auch wenn man diese Delikte herausrechnet, ist die Zahl der Straftaten bei Nicht-Deutschen gestiegen. Das kann mehrere Ursachen haben: Unter den Geflüchteten sind viele junge Menschen, die in allen Ländern zu den Personen gehören, die häufiger straffällig werden als Ältere. Zugleich sind Zugewanderte stärker von sozialen Notlagen betroffen, etwa durch einen mangelnden Zugang zum Arbeitsmarkt.

Besonders hoher Anstieg bei Gewalttaten

Ein Trend fällt besonders ins Auge: Gewalt nimmt zu – jedenfalls die gewalttätigen Straftaten, die der Polizei gemeldet werden und bei der die Ermittler auch einen Tatverdächtigen ausfindig machen können. Zur Gewaltkriminalität gehören Körperverletzungen und Raub, aber auch Vergewaltigung und Mord. Insgesamt stieg dieser Bereich im Vergleich zum Vorjahr um knapp 20 Prozent. Eine Ursache für diesen Anstieg können die Ermittler nicht nennen.

Hintergrund könnte aber sein, dass durch die Krisen wie Krieg in der Ukraine, Pandemie, Inflation und hohe Energiepreise insgesamt ein raueres Klima in der Gesellschaft herrscht – was zu mehr Gewalt führt. Auch die Zahl der psychischen Erkrankungen, etwa bei Jugendlichen, hat in der Pandemie zugenommen. Auch das kann eine Erklärung für mehr Delikte sein. Bisher aber sind diese Zusammenhänge nicht erforscht, die Zahlen noch sehr frisch.

BKA-Präsident Holger Münch.
BKA-Präsident Holger Münch. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Höhere Anzeigebereitschaft bei Sexualdelikten

Die Polizei schreibt zudem: „Die steigenden Fallzahlen im Bereich der Vergewaltigung, sexuellen Nötigung und sexuellen Übergriffen könnten auch Hinweis auf eine gestiegene Anzeigebereitschaft“ sein, etwa aufgrund der großen öffentlichen Debatten über Missbrauch in der Kulturwelt (#metoo) und der Prozess gegen organisierte Pädokriminelle nach den Missbrauchsfällen in Lügde, Münster und Bergisch Gladbach.

Ein Anstieg etwa bei den Bedrohungen lässt sich damit erklären, dass Straftatbestände verschärft wurden. Die Bundesregierung will Hasskriminalität stärker verfolgen, hat Paragrafen im Strafrecht erweitert. Die Folge: „Seit April 2021 ist bereits die Drohung mit einer rechtswidrigen Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder gegen eine Sache von bedeutendem Wert unter Strafe gestellt. Zudem wurde eine Strafverschärfung für öffentliche Drohungen, Drohungen auf Versammlungen oder durch Verbreiten eines Inhalts aufgenommen.“

Anzeigebereitschaft und Dunkelfeld – Kritik an der Statistik

Die Statistik der Polizei sammelt alle Delikte, die der Polizei gemeldet werden. Die Höhe der Fälle hängt also stark davon ab, wie oft Betroffene zur Polizei gehen. Zudem erfahren Polizisten von Straftaten, wenn sie die Kontrollen etwa in bestimmten Stadtvierteln verschärfen. Wie stark eine kriminelle Szene im Blick der Statistik ist, hängt also auch von politischen Entscheidungen ab. „Es gibt wohl kaum eine Statistik in Deutschland, die ähnlich stark überinterpretiert und missbraucht wird. Die PKS hat Tücken und Risiken“, sagte SPD-Innenexperte Sebastian Fiedler unserer Redaktion.

Die Statistik blende „einen großen Teil der Kriminalität in Deutschland aus“, so Fiedler. „Nur ein Beispiel: Die Zahlen zu Umweltverbrechen sind jedes Jahr gering. Das liegt aber nicht etwa daran, dass kaum Straftaten gegen die Natur stattfinden, sondern nur daran, dass in den Ländern die Polizei und die Naturschutzbehörden nicht mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sind, um mehr zu ermitteln.“

Grünen-Politikerin Irene Mihalic.
Grünen-Politikerin Irene Mihalic. © dpa | Christophe Gateau

Ähnlich bewertete die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen und Innenexpertin Irene Mihalic die PKS, die am heutigen Donnerstag in Berlin vorgestellt wird. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik in ihrer jetzigen Form sagt nichts über die Kriminalitätswirklichkeit in Deutschland aus. Das Sammeln von Delikten und Tatverdächtigen ist vage, anfällig und verzerrt“, sagte Mihalic unserer Redaktion.

Die frühere Polizistin forderte zugleich: „Wir müssen einen stärkeren Fokus legen auf Opferbefragungen und Dunkelfeldforschung“. Auch Versicherungen lieferten laut Mihalic Datenanalysen, „die wir mehr in der Kriminalpolitik nutzen müssen.“

Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt fordert das Erstellen von „Verlaufsstatistiken“ als Ergänzung zur Polizeilichen Kriminalstatistik: „Das bedeutet, dass Fälle von den ersten Ermittlungen bei der Polizei über den Prozess bei Gericht, den Strafvollzug und die Bewährungshilfe im Anschluss nachverfolgt und verglichen werden könnten“, sagte Singelnstein unserer Redaktion. „So sehen wir Entwicklung von Kriminalität und auch die Reaktionen der Institutionen auf Kriminalität besser. Doch diese Verlaufsstatistiken gibt es bisher nicht, denn die Erstellung ist immens aufwendig.“