Berlin. Immer mehr Menschen sind erschöpft, viele werden krank. Das Land bräuchte dringend eine Verschnaufpause. Doch die ist nicht in Sicht.

Es ist ein dramatischer Befund, den die Kaufmännische Krankenkasse da präsentiert. Immer mehr Berufstätige können nicht mehr, sie sind seelisch erschöpft. Die Zahl der Krankschreibungen wegen seelischer Leiden ist im dritten Corona-Jahr in die Höhe geschossen. Zunehmend sind auch Männer betroffen. Besonders groß ist der Druck in der Pflege, in der Erziehung und Sozialarbeit.

Corona mag seinen Schrecken verloren haben. Die große Mehrheit der Menschen ist geimpft. Die Schutzmaßnahmen sind fast vollständig abgeschafft, das Sozial- und Wirtschaftsleben im Land hat sich weitgehend normalisiert. Statt Masken- und Testpflicht herrscht allerorten wieder die große Freiheit.

An den langfristigen Folgen der Pandemie aber wird die Gesellschaft nach Lage der Dinge noch geraume Zeit zu tragen haben. Etliche Arbeitnehmer und ihre Familien haben die Coronakrise allenfalls mit Ach und Krach überstanden. Der Ukraine-Krieg und der damit verbundene Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise schüren aber neue Existenzängste. Auf die eine Krise folgte die nächste. Und natürlich sind davon nicht nur Beschäftigte betroffen, sondern im großen Maße auch Kinder und Jugendliche.

Corona: Beschäftigte sind mit ihren Kräften schlicht am Ende

Man könnte es auch so ausdrücken: Deutschland hat Long Covid. Und je länger die heiße Phase der Pandemie zurückliegt, desto deutlicher treten deren Langzeitfolgen zutage. Viele Menschen in diesem Land sind mit ihren Kräften schlicht am Ende. Nicht jeder wird krank, viele leiden still vor sich hin. Gegen all das kann kein milliardenschweres Entlastungspaket des Staates helfen. Und sei es noch so klug konzipiert und noch so gut gemeint.

Es ist ja auch nicht so, dass die Gesellschaft nach dem Abklingen der Pandemie einfach wieder in den Normalbetrieb zurückkehren könnte – so sehr sie sich auch nach Normalität sehnen mag. Corona und Krieg haben vielen Menschen nicht nur die eigene Hilflosigkeit, sondern auch die Defizite des Gemeinwesens vor Augen geführt. Jahrelang berauschte sich Deutschland an seinen ökonomischen Erfolgen und dem brummenden Arbeitsmarkt. Es vergaß darüber, für Krisen und die Zukunft vorzusorgen.

Jetzt muss das Land mit einer vergammelten Infrastruktur klarkommen, mit nicht digitalisierten Behörden, mit überlasteten Krankenhäusern, schlechten Schulen und einer verschleppten Energiewende. Jeder Punkt für sich beeinträchtigt die Lebensqualität der Bürger unmittelbar. Und jeder ist eine weitere Hypothek für die Zukunft.

Arbeitnehmer: Viele haben ihren bisherigen Jobs den Rücken gekehrt

Auch auf dem Arbeitsmarkt ist durch die Pandemie einiges ins Rutschen gekommen. In Scharen haben Beschäftigte Branchen wie die Pflege, die Gastronomie oder das Erziehungswesen verlassen und sich andere Jobs mit besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen gesucht. Das führt dazu, dass die Qualität vieler öffentlicher und privater Dienstleistungen noch einmal dramatisch schlechter geworden ist. Die verbliebenen Kräfte haben noch mehr Stress und eine noch höhere Arbeitsbelastung. Sie sind damit ihrerseits anfälliger für Erkrankungen aller Art. Ein Teufelskreis.

Es wird lange Zeit dauern, bis sich jeder Einzelne und das Land insgesamt aus dieser Lage herausgearbeitet haben werden. Wie lange die Ausnahmesituation für Deutschland und seine Bewohner noch anhalten wird, lässt sich nicht abschätzen. Das wird ganz entscheidend auch davon abhängen, wann und wie der Krieg in der Nachbarschaft endet. Die Gesellschaft insgesamt hätte eine Verschnaufpause nötig. Vermutlich wird sie sie so schnell nicht bekommen.