Berlin/Kiew. Die Menschen in der Ukraine sind nach einem Jahr Krieg erschöpft, aber ungebrochen. Frieden, so sagen sie, ist nur ohne Putin möglich.

Für viele Kinder fällt die Schule aus. Erwachsene arbeiten im Homeoffice, wenn es irgendwie geht. Am Jahrestag der russischen Invasion herrscht in der Ukraine eine fast schon routinierte Vorsicht. Alle wissen, dass Kremlchef Wladimir Putin das Datum nutzen könnte, um eine neue Welle von Raketen- und Drohnenangriffen zu befehlen. In Charkiw, Saporischschja und anderen Städten, die in Frontnähe liegen, verkriechen sich Menschen schon in der Nacht in Kellern und U-Bahnschächten. Um etwas ruhiger schlafen und ein wenig Kraft tanken zu können, weil sie mit dem Schlimmsten rechnen.

Bei manchen ist die Energie nach einem Jahr des Krieges aufgebraucht. „Der Stress lässt meine Haare ausfallen, meine Sehkraft lässt nach, die Zähne sind brüchig“, erzählt die 55-jährige Lariya aus Odessa in einem Interview. Ihr Sohn kämpft an der Front im Osten des Landes. Sie nehme Schlaf- und Beruhigungsmittel, finde aber trotzdem kaum Ruhe in der Nacht. Der zehn Jahre ältere Wolodymyr, ein Rentner aus dem zentralukrainischen Oleksandrija, stürzt sich dagegen in jede Form von Tätigkeit: „Arbeit hilft. Alltagsdinge. Für Verwandte sorgen oder für die Nachbarn.“

Ukraine-Krieg: 95 Prozent der Ukrainer glauben an den Sieg

Die Menschen suchen ihren je eigenen Weg, um durchzuhalten. Aber selbst unter den Erschöpftesten der Erschöpften ist der Wille ungebrochen. In aktuellen Umfragen geben 95 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer an, dass sie von einem Sieg im Verteidigungskrieg gegen Russland überzeugt sind. Drei Viertel der Bevölkerung glauben sogar, dass es noch in diesem Jahr gelingen wird, die Besatzer zu vertreiben. Die Antwort „Ich glaube nicht an einen Sieg“ gibt nur ein Prozent.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

 Wolodymyr Selenskyj (l), Präsident der Ukraine, hält eine Fahne einer Militäreinheit, die von einem Offizier geküsst wird, während einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Wolodymyr Selenskyj (l), Präsident der Ukraine, hält eine Fahne einer Militäreinheit, die von einem Offizier geküsst wird, während einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine. © dpa | Uncredited

Wolodymyr Selenskyj kennt die Stimmung so gut wie die Zahlen der Demoskopen. Der Präsident, der selbst nur drei bis fünf Stunden in der Nacht schläft, ist längst so etwas wie der Seelsorger der Nation. Wer will, kann sich jeden Morgen die neueste Videobotschaft des Staatschefs ansehen. Am Jahrestag des russischen Überfalls blickt Selenskyj auf die vergangenen zwölf Monate zurück und erklärt: „Wir halten allen Bedrohungen stand, den Streubomben, den Raketen und Kamikaze-Drohnen, dem Stromausfall und der Kälte. Wir sind stärker als das.“ Stärker als der Tod, soll das heißen.

Frieden, so glauben die Menschen, gibt es erst wenn Putin besiegt ist

Und was ist mit der Sehnsucht nach Frieden? Die könne erst gestillt werden, wenn Russland besiegt und Putin von der Macht in Moskau entfernt ist. So sehen es die meisten Menschen in der Ukraine, und so sieht es auch Selenskyj. Am Freitag, als China eine Initiative für Verhandlungen vorlegt, erklärt er: „Wir könnten uns mit Putin vielleicht auf etwas einigen, aber am nächsten Tag schickt er wieder Truppen. Nein, man kann keine Vereinbarungen mit Leuten treffen, die nicht bereit sind, sie einzuhalten.“

Ist das politisch klug? Fachleute zweifeln daran. Angesichts der Stimmung in der Ukraine hat der Präsident aber kaum eine Wahl. Denn jedes verbale Zugeständnis an Russland würde sich nicht nur negativ auf die Kampfmoral an der Front auswirken. Jeder Unterton des Zweifels am eigenen Sieg würde auch weiter an der Kraft der Menschen im Land zehren. Und für die trägt der Präsident eine Verantwortung. Nicht nur wegen seines Amtseides.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja