Kiew/Berlin. Ukraines Außenminister Kuleba im Interview zu Waffenlieferungen, der Rolle von Scholz – und Chancen für diplomatische Initiativen.

Die Arbeitstage des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba sind lang und anstrengend. Am Mittwochabend bespricht er mit Präsident Wolodymyr Selenskyj drei Stunden lang die neuesten Entwicklungen im Krieg. Danach empfängt er unsere Redaktion und unsere französische Partnerzeitung „Ouest-France“ zum Video-Interview. Kuleba sitzt entspannt am Schreibtisch, im Hintergrund sind die ukrainische Flagge und eine Weltkarte zu sehen. Rechts außen steht ein Ikonenbild, das ein Maler auf einer Munitionskiste von der Front angefertigt hat – ein Geschenk an den Minister.

Herr Minister, der Kampf um die Stadt Bachmut ist zu einem Symbol für den Ukraine-Krieg geworden. Wie lange können die ukrainischen Truppen den Ort noch halten?

Dmytro Kuleba: Sie werden Bachmut halten. Wer klagt, dass die Verteidigung zu viele Opfer fordert, darf nicht vergessen: Wenn wir uns zurückziehen, wird eine andere Stadt zu einem neuen Bachmut. Deshalb kämpfen unsere Soldaten um jeden Quadratzentimeter Land.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Die Gefechte sind heftiger geworden, vor allem im Donbass. Hat die Frühlingsoffensive der Russen schon begonnen?

Kuleba: Ja, die Offensive ist bereits angelaufen. Die Russen haben vor, die Intensität der Kämpfe zu erhöhen und bis zum Frühjahr zu steigern. Aber ihr Plan wird nicht aufgehen. Nach ihren Vorstellungen hätten sie Bachmut schon längst erobern müssen.

Russland verfügt über gewaltige Ressourcen an Soldaten und Kriegsmaterial. Befürchten Sie nicht, dass Moskau weitere Gebiete erobert und vielleicht sogar den Krieg gewinnt?

Kuleba: Das glaube ich nicht. Nach dem Beginn der Mobilisierung haben die Russen einen Teil der Wehrpflichtigen ohne Training an die Front geschickt – sie wurden getötet. Der andere Teil der Rekruten wurde ausgebildet und jetzt in die Ukraine entsandt. Aber ihre Kampfqualität ist kaum höher. Zahlen sind nicht alles. Russland kämpft zum großen Teil mit Waffen aus der Sowjetzeit – wie wir zu Beginn des Krieges. Jetzt besitzen wir modernere Waffen, die uns enorm helfen.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba findet, dass Deutschland im Ukraine-Krieg über sich selbst hinausgewachsen ist.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba findet, dass Deutschland im Ukraine-Krieg über sich selbst hinausgewachsen ist. © AFP | MICHAL CIZEK

Nachdem Deutschland die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine gebilligt hat, schien sich eine große internationale Panzerkoalition anzubahnen. Wie groß ist diese inzwischen?

Kuleba: Die Zahlen für die Zusagen an Panzerlieferungen können sich sehen lassen. Aber die Erlaubnis für die Verschickung neuer Waffentypen in die Ukraine ist nicht mehr das Allerwichtigste. 2023 kommt es vor allem darauf an, dass die Rüstungsgüter, die die westlichen Länder seit Anfang Januar zugesagt haben, rechtzeitig entsandt werden. Je schneller wir militärisches Gerät erhalten, desto früher endet der Krieg.

Welche von den zugesagten Waffen braucht die Ukraine am nötigsten?

Kuleba: Am dringendsten brauchen wir jetzt Artillerie-Munition, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge und mehr Luftverteidigungssysteme.

Die Ukraine fordert auch Kampfjets vom Westen. Inwieweit würden die einen Unterschied im Krieg ausmachen?

Kuleba: Aus zwei Gründen. Kampfjets unterstützten die eigene Luftabwehr. Die Maschinen können auch eingesetzt werden, um feindliche Raketen abzuschießen. Zweitens sind Flugzeuge für die Gegenoffensive wichtig. Wir wären vor allem an Kampfjets aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland interessiert. Diese Länder haben die höchsten Produktionskapazitäten und die größten Flugzeug-Flotten.

Wie viele Länder haben der Ukraine Kampfjets angeboten?

Kuleba: Bislang hat sich kein einziges Land zur Lieferung von Kampfjets verpflichtet. Aber einige Regierungen wie die britische haben die Ausbildung ukrainischer Piloten auf westlichen Kampfjets angekündigt – andere werden dies bald tun.

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Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands und Frankreichs?

Kuleba: Deutschland ist über sich selbst hinausgewachsen – auch wenn einige Entscheidungen zu lange gedauert haben. Ich glaube, dass die Dinge nach dem Leopard-Beschluss viel glatter laufen werden. Die Gespräche, die Präsident Wolodymyr Selenskyj, Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz vor Kurzem in Paris geführt haben, waren ein sehr wichtiger Moment. Das wird sich an den künftigen Vereinbarungen zeigen, die in Berlin und Paris getroffen werden – in politischer und militärischer Hinsicht. Ich glaube, vor allem Kanzler Scholz versteht jetzt Präsident Selenskyj und die Ukraine besser.

In Deutschland und in Frankreich läuft gerade eine große Debatte, ob der Krieg nicht durch diplomatische Initiativen beendet werden könnte. Was sagen Sie dazu?

Kuleba: Ich mag jeden, der Frieden durch diplomatische Initiativen erreichen will – ich bin ja selbst Diplomat. Aber wie kann eine solche Initiative funktionieren? Sollte der Preis für den Frieden darin bestehen, dass Russland in den besetzten Gebieten bleibt? Wenn der Kreml begreift, dass er Territorien militärisch erobern kann, warum sollte er dann aufhören? Er würde vielleicht eine Pause machen und in etwa einem Jahr einen weiteren Krieg anzetteln.

Dennoch wächst die Angst, dass der Westen durch immer neue Waffenlieferungen in einen Krieg hineingezogen werden könnte. Verstehen Sie die Sorgen vor einer Eskalation?

Kuleba: Natürlich – aber man darf dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht auf den Leim gehen. Bei allem, was nach dem 24. Februar passierte, lautete das russische Narrativ: Mach diesen Schritt nicht, sonst eskalierst du und rutschst in einen Krieg gegen uns. Die Russen versuchen, ihre Ziele mit Einschüchterungstaktiken zu erreichen. Bislang führt jedoch niemand außer der Ukraine Krieg gegen Russland. Ich will eines ganz klar sagen: Viele der Leute, die sich mit schmerzvollem Gesicht für Frieden und Diplomatie stark machen, wollen in Wahrheit nur, dass die Ukraine durch Russland besiegt wird.

Was würden Sie zu unseren Lesern sagen, die unter den wirtschaftlichen Auswirkungen wie hohe Energiepreise leiden – Menschen, die denken, der Krieg dauert zu lang?

Kuleba: Das ist schmerzhaft, in jeder Beziehung. Aber wenn Ihr Land angegriffen würde, würden Sie sich nicht darüber beklagen, dass die Verteidigung zu lange dauert.

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Wann sehen Sie den Moment für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland?

Kuleba: Am Anfang jeglicher Gespräche mit Russland kann nur stehen: Die territoriale Integrität der Ukraine muss vollständig wiederhergestellt werden. Das ist unverhandelbar. Wir haben eine bittere Lektion gelernt: Wenn man Russland den kleinen Finger gibt, nimmt es die ganze Hand.

2024 finden die Olympischen Sommerspiele in Paris statt. Sollten russische und belarussische Athleten teilnehmen dürfen: Würde die Ukraine die Spiele boykottieren?

Kuleba: Das ist eine von mehreren Optionen. Wenn russische und belarussische Sportler anstelle von ukrainischen Athleten nach Paris kommen würden, wäre dies gegen alle moralischen, sportlichen und politischen Standards. Selbst wenn Russen und Belarussen unter einer neutralen Flagge antreten – wie das der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, vorgeschlagen hat. Die meisten russischen Sportler, die bei den letzten Olympischen Spielen Medaillen errangen, vertraten Sportclubs der russischen Armee. Die Heuchelei des IOC-Präsidenten und des Komitees ist einfach erbärmlich. Ein Land, das eine Aggression begeht – die von der großen Mehrheit der UN-Generalversammlung verurteilt wurde –, verliert das Recht, bei Olympischen Spielen mitzumachen. Das gilt auch für alle seine Sportler.

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