Berlin/Brüssel. Nach dem Abschuss eines Spionageballons über den USA warnen Sicherheitsbehörden vor Chinas Geheimdienst-Aktivitäten auch bei uns.

Es war eine ungewöhnliche Maßnahme der deutschen Delegation: Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang November in Peking landete, hatten viele seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein neues Handy dabei. Viele Mobiltelefone blieben an Bord des Kanzlerfliegers, andere Geräte wurden in versiegelten Tüten in einer Kiste verstaut, die verplombt und während des Besuchs in China nicht aus den Augen gelassen wurde. Die in China benutzten Regierungstelefone sollten nach der Reise zerstört werden. Das Misstrauen der Bundesregierung gegenüber China ist groß.

Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, warnte im Oktober vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts mit Russland, dass die größere Gefahr für die deutsche Sicherheit von China ausgehe: „Russland ist der Sturm, China ist der Klimawandel.“

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht werden Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sowie Militär als Ziele chinesischer Spionage in Deutschland genannt. Der Informationshunger Chinas alarmiert aber nicht nur deutsche Sicherheitsbehörden. Chinas Spionage-Aktivitäten haben auch in anderen Staaten in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen.

China: FBI und MI5 warnen vor Spionage

Vor einigen Monaten schlugen der Direktor des amerikanischen FBI, Christopher Wray, und der Chef des britischen Geheimdienstes MI5, Ken McCallum, Alarm: Die chinesische Spionage sei „die größte Herausforderung für die westliche Abwehr“, warnten sie in der Londoner MI5-Zentrale vor handverlesenem Experten-Publikum.

Der FBI-Chef spricht von einer „ernsthaften Bedrohung für das wirtschaftliche Wohlergeben und die demokratischen Werte der USA“. Das FBI bearbeitet tausende laufende Fälle von Spionageabwehr gegen China, im Durchschnitt kommen jeden Tag zwei neue Fälle hinzu.

Die Briten berichten, das Volumen der Ermittlungen mit China-Bezug habe sich seit 2018 versiebenfacht. MI5-Chef McCullan sagt: „Chinesische Spionage ist subtil und geduldig.“ Ähnlich die Einschätzung in Berlin: „Wir müssen davon ausgehen, dass China auch in Deutschland versucht, unsere sensiblen Daten auszukundschaften“, sagte der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff unserer Redaktion. Notwendig seien ernsthafte Anstrengungen, die Widerstandsfähigkeit der staatlichen Einrichtungen zu erhöhen, und ein „China-Stresstest“ zur Ermittlung von Abhängigkeiten bei der kritischen Infrastruktur.

Chinesische Spionage: Der Geheimdienst ist groß und geduldig

China betreibt einen der größten und aktivsten Geheimdienste der Welt. Im Zentrum steht das Ministerium für Staatssicherheit (MSS), das in den 80er Jahren nach dem Vorbild des russischen KGB aufgebaut wurde und Auslandsspionage, Abwehr, Cyberattacken und Beeinflussungsoperationen unter einem Dach vereint. Allein in Brüssel, dem Sitz vieler EU-Institutionen und der Nato, sollen bis zu 250 chinesische Agenten unterwegs sein, wie Sicherheitsleute des Europäischen Auswärtigen Dienstes schätzen.

Besonders aktiv ist China auch in Deutschland im Bereich der Industriespionage. Dabei geht das MSS gezielt und sehr umfassend vor. Es sammelt große Mengen persönlicher Daten von Bürgern und sucht darin nach potenziellen Zielen für die Anwerbung von Quellen. So haben chinesische Spione bei einem US-Büro für Sicherheitsüberprüfung die Daten von 22 Millionen Amerikanern abgegriffen, einschließlich Angaben zu persönlichen Schwachstellen.

Der mutmaßliche chinesische Spionage-Ballon über dem Atlantischen Ozean kurz vor dem Abschuss durch einen F22-Kampfjet.
Der mutmaßliche chinesische Spionage-Ballon über dem Atlantischen Ozean kurz vor dem Abschuss durch einen F22-Kampfjet. © dpa | Chad Fish

Verfassungsschutz warnt vor chinesischer Spionage in Wirtschaft und Wissenschaft

Auch hierzulande geraten bestimmte Personen gezielt ins Visier chinesischer Agenten. „Für die Realisierung seiner ambitionierten Industriepolitik nutzt China Spionage in Wirtschaft und Wissenschaft, kauft ganz oder teilweise deutsche Unternehmen der Spitzentechnologie und wirbt gezielt Wissensträgerinnen und -träger an“, analysieren die deutschen Verfassungsschützer.

In einer Veröffentlichung zur Spionage in Wissenschaft und Forschung warnt der Verfassungsschutz ausdrücklich vor Chinas Bemühungen, sich speziell Wissen über sogenannte Dual-Use-Güter zu verschaffen, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen können. Ein übliches Vorgehen ist es dem Verfassungsschutz zufolge, Wissenschaftler aus Deutschland etwa im Umfeld akademischer Veranstaltungen in China anzuwerben.

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Chinas Hackerangriffe in Deutschland: Das sind die Ziele

Hinzu kommt Cyberspionage: Chinesische Hackerangriffe in Deutschland richteten sich in den vergangenen Jahren vor allem gegen Unternehmen in der Technologie-, Chemie-, Schifffahrts- oder Rüstungsbranche. Anfangs war für die Cyberspionage vor allem der Nachrichtendienst der chinesischen Volksbefreiungsarmee zuständig, inzwischen koordiniert das MSS die Cyber-Aktivitäten auch des Militärs.

In einem der spektakulärsten Fälle sollen die MSS-Hacker 2021 in hunderttausende Server rund um die Welt eingebrochen sein und Emails, Dokumente und andere Daten von Unternehmen, Regierungen und Organisationen gestohlen haben. Nach Schätzung westlicher Experten sind mehrere hunderttausend Analysten mit der Auswertung der riesigen Datenmengen befasst, die bei solchen Angriffen anfallen. FBI-Chef Wray sagt, die Cyber-Spionage sei „besonders dreist“ und umfassender als die Aktivitäten aller anderen Länder zusammen.

Chinas Geheimdienste beobachten zudem aufmerksam Staatsbürger, die im Ausland leben. In Deutschland bekommen die chinesische Gemeinde, hierzulande lebende Oppositionelle sowie Angehörige nach Unabhängigkeit strebender Volksgruppen wie Uiguren und Tibeter den langen Arm Pekings besonders zu spüren. Mit sogenannten „Übersee-Polizeistationen“ soll die chinesische Diaspora in Europa und anderen Teilen der Welt ausgeforscht und beeinflusst werden. Nach Angaben der Bundesregierung befinden sich zwei solcher Stationen auch in Deutschland.

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