Moskau. Zunehmend wirbt Russland Arbeitsmigranten aus zentralasiatischen Ländern an. Sie werden mit Monatsgehältern über 3000 Euro gelockt.

Sogar Journalisten der russische Staatsmedien reagierten mit Entsetzen, als die Nachricht die Runde machte: Der 28 Jahre alte Reservist Alexej Martynow, ein leitender Angestellter der Moskauer Stadtregierung, war ohne jede Kampferfahrung in die Ukraine geschickt worden. Am 23. September erfolgte die Einberufung, wenige Tage später starb an der Front.

Vor der Teilmobilisierung russischer Reservisten waren die Kämpfe in der Ukraine für die Mehrheit der Menschen im Land irgendeine „Spezialoperation“. Ob notwendig oder nicht, aber in jeden Fall ausgeführt von Spezialisten, so die öffentliche Wahrnehmung. Jetzt kann es jeden treffen. Auch in Moskau.

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„Wir können nicht herausfinden, wo unsere Jungs sind“

„Er soll im Donbass kämpfen, was für ein Albtraum“, klagt die 37-jährige Viktoria. Die junge Frau hat nicht nur Angst um ihren Bruder, sondern auch um ihren Mann Andrej. Die Einberufungsstelle im Gebiet Rostow am Don, wo Andrej gemeldet ist, würde ihn schon suchen. Bereits jetzt haben rund 400.000 Menschen wegen der drohenden Einberufung das Land verlassen. Viele hochqualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Darunter leidet die russische Wirtschaft.

Entsetzen, Angst – und immer mehr Proteste in ganz Russland: Von den insgesamt 318.000 eingezogenen Reservisten sollen bereits 82.000 an der Front sein. Der Rest befindet sich noch irgendwo in Ausbildungslagern. Wie viele andere veröffentlichten auch Angehörige der aus dem Gebiet Woronesch Mobilisierten eine Videobotschaft mit der Forderung nach Aufklärung über den Verbleib der Rekrutierten. „Wir können nicht herausfinden, wo unsere Jungs sind. Wir bitten die Behörden, uns bei der Klärung zu helfen“, sagt eine der Frauen im Video, gezeigt vom Internet-Fernsehsender „TV Rain“.

Dieser Friedhof wurde von den Ukrainern nach der Befreiung der Stadt Lyman entdeckt.
Dieser Friedhof wurde von den Ukrainern nach der Befreiung der Stadt Lyman entdeckt. © dpa | Ashley Chan

Kritiker befürchten, dass die Mobilisierung verdeckt weitergehen könnte

Offiziell ist die Teilmobilisierung russischer Reservisten abgeschlossen. Ein entsprechendes Dekret hat Präsident Wladimir Putin allerdings nicht erlassen. Dies sei auch nicht nötig, so Kremlsprecher Dmitri Peskow. Kritiker befürchten, dass die Mobilisierung verdeckt weitergehen könnte. Dabei soll die Teilmobilmachung dramatisch ablaufen. Vieles deutet darauf hin, dass die für die „Spezialoperation“ nötige Truppenstärke nicht erreicht sei, heißt es in einem Bericht der amerikanischen Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW).

Unverändert wirbt Russland neue Vertragssoldaten an, die gegen Geld in der Ukraine kämpfen. Neuerdings werden auch Arbeitsmigranten aus zentralasiatischen Ländern wie Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan angesprochen. Männer aus bettelarmen Ländern, die in Russland zumeist für einen Hungerlohn arbeiten. Proteste sind von ihnen nicht zu erwarten.

Einige Millionen Menschen aus Zentralasien leben und arbeiten in Russland

Mittlerweile können sich auch Ausländer zum Dienst in der russischen Armee verpflichten, so ein Dekret von Präsident Putin vom 14. November. Die Moskau Stadtbehörden organisieren im Migrationszentrum Sacharowo eine entsprechende Rekrutierungseinrichtung.

„Sie sagten uns, dass wir mit Gehältern von 220.000 Rubel rechnen könnten“, berichtet ein junger Arbeitsmigrant auf Eurasianet, einem Portal unabhängiger Medien in Zentralasien. Das sind etwas über 3000 Euro pro Monat, eine Menge Geld für Menschen in prekären Jobs.

Das Reservoir für die neue Rekrutierungskampagne ist groß. Einige Millionen Menschen aus Zentralasien leben und arbeiten in Russland. Als Taxifahrer, auf Baustellen, in den Supermärkten. Das Central Asian Bureau for Analytical Reporting, eine Nichtregierungsorganisation, hat zu den Anwerbeversuchen unter Arbeitsmigranten recherchiert. „Viele von ihnen geben an, zahlreiche anonyme Anrufe erhalten zu haben. Man haben ihnen angeboten, sich der russischen Armee anzuschließen. So könnten sie innerhalb von drei Monaten die russische Staatsbürgerschaft erhalten“, betont die Menschenrechtsaktivistin Valentina Chupik.

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Immer mehr Soldaten beschweren sich über mangelhafte Ausrüstung

Migranten mit doppelter Staatsangehörigkeit, die den russischen Pass schon haben, müssen in der russischen Armee ihren Wehrdienst ableisten, auch wenn sie bereits in ihrem Heimatland gedient haben. Wer sich weigere, müsse generell mit dem Entzug der russischen Staatsbürgerschaft rechnen, sagt Kirill Kabanov, Mitglied des russischen Präsidialrates für Menschenrechte. Eine Ausnahme gilt nur für Migranten aus Tadschikistan: Gemäß einem bilateralen Abkommen sind sie von der Wehrpflicht befreit.

Unter den Soldaten mehren sich die Beschwerden über die mangelhafte Ausrüstung, mit der sie an die Front geschickt würden. Teilweise gebe es nicht einmal Helme oder Waffen. Rekruten kauften sich von ihrem eigenen Geld Schlafsäcke, Medizin oder sogar Armeestiefel für den Winter. Überall im Land klagen Frauen in den sozialen Netzwerken, dass die Ernährer der Familie ausfallen.

In der Ukraine, nahe dem Ort Kupiansk, überquert ein Mann die Eisenbahnschienen in der Nähe einer Brücke, die durch den Beschuss russischer Truppen beschädigt wurde.
In der Ukraine, nahe dem Ort Kupiansk, überquert ein Mann die Eisenbahnschienen in der Nähe einer Brücke, die durch den Beschuss russischer Truppen beschädigt wurde. © dpa | ---

Gouverneure kaufen auf eigene Rechnung Ferngläser und Nachtsichtgeräte

Auch Politiker äußern sich entsetzt und verärgert. So berichtete der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow, Mitglied im Verteidigungsausschuss, eineinhalb Millionen Sätze persönlicher Ausrüstung seien verschwunden. Dafür gebe es keine Erklärung. Gouverneure kaufen inzwischen am Budget des Verteidigungsministeriums vorbei teils selbst Ferngläser und Nachtsichtgeräte für die Einberufenen. Der prominente Abgeordnete Leonid Sluzki schimpft: „Es ist eine Schande!“

Von Selbstkritik ist im Kreml nichts zu spüren. Zuletzt wurde Präsident Putin gefragt, ob er bedauere, die „Spezialoperation“ begonnen zu haben. Die Antwort: Was heute passiere, sei zwar „wenig angenehm“. Hätte er aber gezögert, wäre es später nur noch schlimmer gekommen, so der Staatschef. „Also sind meine Handlungen richtig und zeitgemäß.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.