Berlin. Der Bundespräsident wollte eine große Rede an die Nation halten – doch in die Geschichtsbücher schafft sie es wohl nicht. Eine Analyse.

Der Präsident hatte mit dem Allzweckappell geendet, „alles zu stärken, was uns verbindet“. Nun guckt Frank-Walter Steinmeier einerseits zufrieden, andererseits lauernd ins Publikum. Höfliches Klatschen, na gut, aber warum steht keiner auf. Endlich erbarmen sich Menschen an der Seite und erheben sich. Immerhin standing ovations, wenn auch protestantisch kühl. Ist nun der neue Bundespräsident geboren, der mehr als Mahnen und Besorgtsein im Programm hat? Eher nicht.

Die Woche über ging ein Raunen durch Berlin. Der Präsident werde eine Ansprache halten, wispern seine Leute, noch staatstragender als sonst, eine Ruck-Rede. Das war 1997. Bundespräsident Roman Herzog hielt im Hotel Adlon vor erlesenem Publikum, darunter Harald Juhnke, die letzte Präsidentenrede, die das Land gerührt und geschüttelt hat.

Ein Vierteljahrhundert später ist es wieder so weit. Steinmeier, der den Dienst am Rednerpult bisher sagenhafte 650 Mal weitgehend folgenlos versah, sprach am Freitag offiziell zur „Lage der Nation“, inoffiziell aber im eigenen Interesse. In drei Krisenjahren schien das Staatsoberhaupt seltsam abwesend. Nun endlich ein Wumms, Ruck reloaded, eine Rede aus der Churchill-Kategorie. Die Rede war sicherheitshalber mit einer Pressekonferenz angetrommelt worden; die ARD übertrug live.

Über die Bundesregierung sagt Steinmeier kein Wort

Doch weder Kanzler Scholz noch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas waren zugegen, die rangnächsten Verfassungsorgane, nur der Bundesratsvorsitzende Bodo Ramelow, ein Linker. Im Kanzleramt war vorab kein Manuskript eingegangen, was ein Warnzeichen hätte sein können seit Richard von Weizsäckers Klatsche für Kanzler Kohl („machtversessen, machtvergessen“). Aber zur Regierung kein Wort, außer Hilfsversprechen an die Ukraine, für die der Präsident nicht zuständig ist.

Steinmeier leide am Krieg, heißt es im Schloss Bellevue, sein Weg zu einem Plädoyer für die Bundeswehr gleiche einem „Entwicklungsroman“. Die Rede hat er im Sommer in Auftrag gegeben und seither besessen daran gefeilt. Seine Anmerkungen gingen oft nach Mitternacht oder vor Morgengrauen ein. Mag sein, dass diese Rede für Steinmeier ein großer Schritt war. In die Geschichtsbücher schafft sie’s nicht. Bestenfalls gelang Steinmeier ein Miniruck.

Nein, es war nicht die Diktion. Steinmeier spricht nun mal nicht von „Blut, Schweiß, Tränen“, sondern von „individuellen Anstrengungen“. Und über den notorischen „Tellerrand“. Geschenkt. Das Problem war ein ganz anderes: Steinmeier wollte alles – Bundeswehr, Nächstenliebe, junge Leute, Osten, Ehrenamt, Stadt-Land, Bescheidenheit –, umkurvte aber wortreich die zentrale Frage: Wo steht dieser Präsident selbst? So vermied er drei wunde Punkte.

Steinmeier trägt Verantwortung für die Politik der vergangenen Jahrzehnte

Erstens: Distanz. Vorgänger Herzog hatte zur Ruckrede die Uniform des Parteisoldaten abgelegt, Köhler und Gauck trugen nie eine, der niedersächsische Ministerpräsident Wulff war weit weg von Berlin. Steinmeier dagegen steckt noch mittendrin.

Er trägt Verantwortung für die große Politik der vergangenen Jahrzehnte und ihre Folgen, als Schröders Kanzleramtschef, als Vizekanzler, zweimal als Merkels Außenminister. Putin und Lawrow, Krim und Nordstream 2, China, Iran, Klimawandel – Steinmeier kann nicht über die Welt reden ohne zugleich über sich zu sprechen. „Werben um Partner, die anders sind als wir“ – das blieb der einzige verklausulierte Blick in die eigene Vergangenheit. Zu wenig.

Es hätte ein große Rede werden können, wenn Steinmeier den inneren Protestanten geknebelt und öfter „Ich“ gewagt hätte: ich und meine Werte, meine Überzeugungen, meine Fehleinschätzungen, die Zwänge und Traditionen. Statt eine Sternstunde der Reflexion zu liefern, blieb er weit zurück hinter der Rede von Parteichef Lars Klingbeil zur heiklen Achse SPD-Moskau.

Zweitens: Mut. Treffen sich ein Diplomat, ein Jurist und ein Niedersachse… – so kann ein Witz anfangen, aber niemals eine Rede des Juristen und Diplomaten Steinmeier. Die personifizierte Vorsicht wartet. Viel zu spät kritisierte er den China-Deal im Hamburger Hafen, er warnte vor Social Media, als Internetsucht längst anerkannte Krankheit ist, er fuhr acht Monate nach Kriegsbeginn nach Kiew.

Steinmeier kommt stets als Letzter – darauf ist wirklich Verlass

Längst hat Scholz die „Zeitenwende“ etabliert, da fällt Steinmeier das Synonym „Epochenbruch“ ein. Er hätte diese Rede im März halten können, ja müssen. Doch Steinmeier kommt stets als Letzter – darauf ist wirklich Verlass.

Drittens: Inszenierung. Das Wort sei die einzige Waffe des Bundespräsidenten, heißt es. Aber das stimmt in der digitalen Ungeduld nicht mehr. Wer zum Teufel hat Steinmeier vor diesen unansehnlichen Wandleuchter gestellt, der zu Ebay gehört? Warum spricht er nicht vor Soldaten, wenn er der Bundeswehr künftig mehr als „freundliches Desinteresse“ (Köhler 2005) spendieren will?

Kurzum: Steinmeier verlangt vom Land eine „ehrliche Debatte“ und das „Gewohnte zu überdenken“, er spricht von „Verantwortung, die mit Offenheit beginnt“, ohne selbst zu liefern. Er sagt: „Kein Platz für alte Träume“, ohne die eigenen zu benennen. Er zitiert die estnische Präsidentin („Energie mag teurer werden, aber die Freiheit ist unbezahlbar“) anstatt selbst kraftvoller zu formulieren. Er fordert „widerstandskräftige Bürger“, die Widersprüche aushalten ohne ihnen die eigenen Widersprüche zuzumuten.

„Im Angesicht des Bösen reicht guter Wille nicht“, hat Steinmeier noch gesagt. Um sich nicht daran zu halten.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.