Parral. Als erster deutscher Regierungspolitiker besucht der Linken-Politiker in Chile das Areal der ehemaligen Sekte. Er hat einen Appell.

Dicht steht der Wald. Die Felder grünen. Schneebetupfte Gipfel ragen hinter einer sanften Hügelkette empor. Um einen kleinen See gruppieren sich weißgetünchte Häuser, es gibt einen Spielplatz, ein Hotel und allerlei Wirtschaftsgebäude. Im Restaurant wird zünftiges deutsches Essen serviert, die Touristen kommen zahlreich an diesem sonnigen Freitag.

Dies könnte das Allgäu sein, bis auf den Umstand, dass die Schneegipfel nicht zu den deutschen Alpen, sondern zu den chilenischen Anden gehören. Bis heute ist die Siedlung, die als „Villa Baviera“ beworben wird, als „Colonia Dignidad“ bekannt. Hier wurde über Jahrzehnte systematisch gequält, gefoltert und gemordet.

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Gleich neben dem Hauptgebäude sitzt ein freundlicher dreinschauender Mann auf einem elektrischen Dreirad. Die Beine machten nicht mehr so mit, sagt er. Rüdiger Schmidtke, so heißt er, war sechs Jahre alt, als er Anfang der 1960er Jahre mit seiner Familie aus Gronau hier ankam, in den Bergen südöstlich von Parral. Er wurde als Kind sexuell missbraucht und später als Arbeitssklave ausgebeutet.

Anna Schellenberger, Sprecherin der
Anna Schellenberger, Sprecherin der "Colonia Dignidad"-Opfer, spricht beim Besuch von Bodo Ramelow in der "Colonia Dignidad". © Jacob Schröter/dpa

„Es ist gut, dass wir jetzt die Kraft zum Reden habe“, sagt er. „Und es ist gut, dass uns zugehört wird.“ Dann rollt er mit seinem Gefährt zu einem großen Zelt, in dem Bodo Ramelow, der Ministerpräsident Thüringens, an einem Tisch sitzt. Dem Linken-Politiker gegenüber sitzen einige der 130 Kolonisten, die hier immer noch wohnen. Dazu zwangsadoptierte Chilenen und die Angehörigen von Mordopfern. Während sie davon berichten, was ihnen angetan wurde, zittern ihre Stimmen. Einige weinen.

Außenministerium wollte Ramelow vom Besuch abhalten

„Die Quellen Ihrer Schmerzen mögen unterschiedlich sein“, sagt Ramelow. „Aber sie tun all gleich weh.“ Der Landeschef ist als Präsident des Deutschen Bundesrates mit der großen Kanzlermaschine in Chile. Auf einer dieser typischen Reisen, in der sich Regierungstreffen mit Standortreklame und politischer Folklore vermischen.

Was allerdings gar nicht typisch ist, ist sein Auftritt auf diesem historisch toxischen Areal, wohin sich vor ihm noch kein deutscher Regierungspolitiker wagte. Und wenn es nach dem deutschen Außenministerium und der Botschaft ginge, wäre auch Ramelow nicht hier. Eine der mehr oder minder subtilen Hinweise an ihn lautete: Die fünf Stunden Busfahrt von Santiago und wieder zurück – ob er sich denn das wirklich antun wolle?

Bodo Ramelow spricht in der
Bodo Ramelow spricht in der "Colonia Dignidad" mit Opfern der deutsch-chilenischen Sekte. © Jacob Schröter/dpa

"Colonia Dignidad": Pädophiler lockte Kinder in Zwangsarbeitslager

Tatsächlich ist die „Colonia Dignidad“ ein besonders schmutziges Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Alles begann in den 1950er Jahren, als der Laienprediger Paul Schäfer in Nordrhein-Westfalen eine totalitäre Sekte gründete, um Kinder anzulocken und sie zu missbrauchen. Als er anzeigt wurde, floh er ins Ausland und landete 1961 in Chile, wo er 350 Kilometer südlich von Santiago mehrere tausend Hektar Land kaufte.

Hunderte Anhänger folgten, vor allem Kinder. Statt in einem christlichen Feriencamp landeten sie in einem Zwangsarbeitslager, aus dem es keinen Ausweg gab. Eltern wurden von ihren Kindern getrennt und Mädchen von Jungen. Es wurde anlasslos geschlagen, beim kleinsten Widerstand gab es Folter mit Elektroschocks. Angst und Terror wirkten allgegenwärtig.

Schäfer war ein pädophiler Krimineller, aber auch charismatisch und geschmeidig. Er knüpfte ein ihn schützendes Netzwerk mit Behörden, mit der Polizei – und mit Rechtsextremisten, denen er unter anderem Waffen für den Sturz des linken Präsidenten Salvador Allende besorgte.

Nach dem Pinochet-Putsch 1973 richtet der Geheimdienst Dina in der Kolonie ein Folterzentrum ein. Dutzende, womöglich hunderte Regimegegner wurden ermordet. Schäfer und einige Getreue halfen aktiv mit.

Erst nach Schäfers Tod begann die Aufarbeitung der Bundesregierung

Obwohl manches davon bald bekannt wurde, wollte die Botschaft in Santiago de Chile davon zumeist nichts wissen, das Auswärtige Amt in Bonn ebenso wenig. Erst als Schäfer dank chilenischer Gerichte 2005 verhaftet wurde und einige Jahre später starb, begann die Bundesregierung sich widerwillig ihrem Versagen zu stellen.

Weil einige Bundestagsabgeordnete nicht nachließen, beschloss das Parlament 2017 erste Ausgleichszahlungen an die deutschen Opfer. Zudem erarbeitete eine deutsch-chilenische Arbeitsgruppe einen Vorschlag für einen Gedenkort.

Bodo Ramelow im ehemaligen Privatzimmer von Sekten-Gründer Schäfer in der
Bodo Ramelow im ehemaligen Privatzimmer von Sekten-Gründer Schäfer in der "Colonia Dignidad" © Jacob Schröter/dpa

Ein Mitglied war Christian Wagner, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, der mit Ramelow nach Chile gekommen ist. Das damalige Verhalten der deutschen Behörden müsse als „beschämend“ bezeichnet werden, sagt er. Umso wichtiger sei es, das Konzept für die Gedenkstätte jetzt endlich umzusetzen.

Ramelow: Deutschland und Chile müssen Verantwortung übernehmen

Ähnlich wiederholt es auch Ramelow immer wieder in die Mikrofone, nachdem er den Folterkeller besichtigte, und das provisorische Museum, das eine krude Mischung aus Selbstdarstellung und Schuldeingeständnis darstellt.

Er wolle, sagt er, mit seinem Besuch „den Scheinwerfer“ auf dieses „sehr schwieriges Thema“ richten. „Es ist notwendig, dass jetzt die deutsche Regierung gemeinsam mit der chilenischen Regierung Verantwortung übernimmt.“

Doch das wird kompliziert – mit zwei Administrationen auf zwei weit entfernten Erdteilen und mehreren Opfergruppen, die um das Erbe der Kolonie und staatliche Entschädigungen konkurrieren. Derweil, auch das gehört zur dieser sehr deutschen Geschichte, leben einige von Schäfers Kollaborateuren unbehelligt in Bundesrepublik.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.