Berlin. Die historische Zinsanhebung der EZB war überfällig. Eine Entschuldigung für frühere Versäumnisse fehlt aber noch, meint unser Autor.

Na endlich: Nach langem Zögern hat die Europäische Zentralbank sichtbar in den Krisenmodus geschaltet und zur Inflationsbekämpfung die bislang größte Zinsanhebung ihrer Geschichte beschlossen. Dass der Leitzins gleich um 0,75 Prozentpunkte steigt, ist eine Niederlage für die Verfechter einer lockeren Geldpolitik in der Eurozone. Der Druck war freilich immens auf die Währungshüter, die mit ihrem bisherigen Beschwichtigungskurs offenkundig gescheitert sind. Die erste, zu zaghafte Zinsanhebung im Juli ist verpufft, die Inflation steigt ungebremst weiter.

Inzwischen stöhnen 9 der 19 Euro-Länder über zweistellige Preissteigerungen – und auch in Deutschland könnte die Inflationsrate bald die 10-Prozent-Grenze überschreiten, weil die Gasumlage und das Ende von 9-Euro-Ticket und Tankrabatt die Preise nach oben drücken. Die Lage ist bedrohlich: Auch wenn man die großen Treiber Energie und Nahrungsmittel herausrechnet, steigen die Preise auf breiter Front – für viele Bürger und Unternehmen ist das eine enorme Belastung, die auch milliardenschwere Entlastungspakete nicht beseitigen können.

Lesen Sie auch: Hohe Inflation: So stark schränken sich die Deutschen ein

Die EZB hat die Inflation unterschätzt

Viel zu lang hat die EZB zugesehen und die Preissprünge als vorübergehendes Phänomen abgetan. Dabei spielte wohl auch die Angst der Notenbanker eine Rolle, ein Ende des billigen Geldes werde den überschuldeten Staaten in Südeuropa neue Probleme bereiten und Euro-Turbulenzen provozieren.

Christian Kerl, EU-Korrespondent
Christian Kerl, EU-Korrespondent © Privat

Sicher, für Länder wie Italien mit hohem Staatsdefizit ist der Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik schmerzhaft; ein Anstieg der Zinsen sorgt stets auch für Verlierer, Kredite werden teurer, das Wachstum kann gebremst werden. Doch die vorrangige Aufgabe der EZB ist es, für Preisstabilität zu sorgen. In der aktuellen Risikoabwägung muss die Inflationsbekämpfung absolute Priorität haben – jedes Zögern ist gefährlich und macht die Therapie nur schmerzhafter.

Andere waren klüger: Die US-Notenbank hat zuletzt mehrfach das Zinsniveau erhöht, der Leitzins liegt dort inzwischen bei 2,25 bis 2,5 Prozent – etwa doppelt so hoch wie der neue Leitzins der EZB. Auch deshalb hat der Euro an Wert verloren, was unsere Energieimporte zusätzlich teurer macht.

Lesen Sie auch: Wissenschaftler warnt: Makrökonomischer Schock droht

Die Unterlassungssünden der Zentralbank wiegen schwer

Die Unterlassungssünden der europäischen Zentralbanker wiegen also schwer. Eigentlich wäre eine Entschuldigung überfällig. Die Inflation hat sich längst festgesetzt – der Preisanstieg wird nun auch begleitet von entsprechenden Erwartungen der Bürger, die sich auf eine längerfristige Teuerung einstellen. So wächst die Gefahr der gefürchteten Lohn-Preis-Spirale. Sie ist mit der Zinsentscheidung nicht vom Tisch.

Weitere Erhöhungsschritte werden zügig folgen müssen, auch als ein Signal an die Finanzmärkte, dass die EZB den Kampf gegen die Inflation entschlossen aufnimmt. Die nächste Bewährungsprobe kommt ja bald. Wenn Europa demnächst in eine Rezession steuert, muss die Notenbank in einem verschärften Balanceakt die Inflation weiter entschlossen bekämpfen, ohne den Wachstumseinbruch noch über die Maßen zu verstärken. Ob das gelingt?

Auch interessant: Automatischer Lohnausgleich bei Inflation – Modell für Deutschland?

Man kann nur hoffen, dass die EZB die Kraft zu notwendigen Zinserhöhungen auch nächstes Jahr hat, aber Zweifel sind erlaubt. Schon deshalb kommt die Politik nicht darum herum, die Maßnahmen der überforderten Währungshüter mit eigenen Initiativen zu flankieren. Wenn es Deutschland und den anderen EU-Ländern jetzt gelingt, mit staatlichen Eingriffen die Preise für Strom und Gas vorübergehend zu begrenzen, könnte das auch ein Beitrag sein, die dramatisch hohen Inflationsraten wieder zu senken.