Mykolajiw. Seit Tagen heftige Gefechte: Die Ukraine hat die Gegenoffensive gestartet. So erleben die Menschen in Myklolajiw die Rückeroberung.

Geduldig stehen an diesem Samstagvormittag Dutzende Menschen im zweiten Stock der Blutspende-Zentrale von Mykolajiw. Einige reden miteinander, manche lachen leise. Tatjana, eine junge Frau in Jeans und schwarzem T-Shirt, die langen, dunklen Haare zum Zopf gebunden, starrt auf ihr Mobiltelefon. Warum sie hier ist? Sie schaut erstaunt. „Weil andere mein Blut dringender brauchen.“

Es ist der sechste Tag der ukrainischen Gegenoffensive im Süden des Landes. Etwa dreißig Kilometer entfernt von Mykolajiw toben heftige Gefechte. Soldaten sterben. Soldaten werden verwundet.

Seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der etwa 500 Kilometer weiter nördlich gelegenen Hauptstadt Kiew am vergangenen Montag den Beginn der seit längerem erwarteten Gegenoffensive im Süden des Landes verkündete, gibt sich das ukrainische Militär noch bedeckter als ohnehin üblich. Journalisten haben keinen Zugang zu den Kampfgebieten im Raum zwischen Mykolajiw und der im März von der russischen Armee eroberten Regionalhauptstadt Cherson, die etwa siebzig Kilometer östlich liegt.

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Die Gegenoffensive geht nur langsam voran und fordert offenbar viele Opfer. Einheimische berichten von vielen Ambulanz-Konvois, die täglich aus Richtung Mykolajiw ins weiter westlich gelegene Odessa fahren. Als wir Freitagvormittag nach Myklolajiw reisen, kommen uns zwei dieser Konvois mit einem guten Dutzend Fahrzeugen entgegen. Blutspenden werden dringend gebraucht.

Bereits vier Tage vor dem Beginn der Gegenoffensive hatte der Bürgermeister von Mykolajiw die Bürger zum Blutspenden aufgerufen. In den Tagen nach ihrem Start zog sich die Schlange der Wartenden vor der Blutspende-Zentrale bis auf die Straße vor dem Gebäude, erzählt ein Doktor. „Ich bin hier, weil ich es als meine Pflicht ansehe, Blut zu spenden“, sagt Roman, Mitte Zwanzig. Es sind auffallend viele junge Leute an diesem Samstagmorgen hier.

Raketenwerfer aus Deutschland kommt offenbar erstmals zum Einsatz

Die ukrainische Armee hatte die Gegenoffensive in den vergangenen Wochen mit einer Vielzahl von Angriffen gegen russische Munitionsdepots, Kommandozentralen und Nachschubwege vorbereitet. Brücken bei Cherson und dem weiter östlich gelegenen Nowa Kachowka wurden durch Artillerie-Schläge beschädigt, bei denen die Ukrainer vom Westen gelieferte Mehrfachraketenwerfer einsetzten.

Ein kürzlich veröffentlichtes Video lässt darauf schließen, dass im Großraum Cherson erstmals der von Deutschland gelieferte Raketenwerfer MARS II zum Einsatz gekommen ist, der zwölf Raketen binnen dreißig Sekunden abfeuern kann. Den Mangel an gepanzerten Fahrzeugen, die für ein schnelles Vorstoßen wichtig wären, machen die modernen und hochpräzisen Artilleriesysteme jedoch nicht wett.

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So scheint es den Ukrainern zwar gelungen sein, westlich des Flusses Dnipro einige Dörfer und Siedlungen zurückzuerobern; von einem durchschlagenden Erfolg kann jedoch noch nicht die Rede sein. Die russischen Streitkräfte haben in den vergangenen Monaten ihre Verteidigungspositionen gut ausgebaut. Eigentlich fehlt es der ukrainischen Armee auch an der notwendigen Truppenstärke, um die Stellungen zu überwinden.

Ukrainischer Soldat: „Es geht langsam, aber stetig voran“

Im Park nahe der Soborna-Straße im Zentrum von Mykolajiw sitzen drei Männer rauchend auf einer der Bänke. Slava, Oleksandr und Evgenij stammen aus Odessa, sie dienen in einer Brigade der Territorialen Verteidigungskräfte. Die drei waren bis vor zwei Tagen im Kampfgebiet, zeigen Bilder und Videos von ihrem Einsatz und geben sich selbstbewusst.

„Wir sind seit Montag weit nach vorne gekommen, es geht langsam, aber stetig voran“, sagt Slava, ein Mittdreißiger, der vor dem Krieg auf Baustellen gearbeitet hat. Er sagt auch: „Wir sind sicher, dass wir Cherson bald befreien werden.“ Seine beiden Freunde nicken.

Ein ukrainischer Soldat steht in einem Schützengraben im Großraum Mykolajiw.
Ein ukrainischer Soldat steht in einem Schützengraben im Großraum Mykolajiw. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Darauf hofft Aljona Laptchuk inständig. „Die Befreiung wird kommen.“ Sie sitzt in einem Pavillon im weitläufigen Garten hinter dem schlichten grauen Häuschen in Krasnoje, einem Dorf eine Stunde Autofahrt entfernt von Mykolajiw, wo wir sie zuletzt im Juni getroffen hatten, und wo sie uns vom Tod ihres Mannes Vitaly erzählte. Die Leptchuks lebten in Cherson.

Nach der Besetzung der Stadt hatte Vitaly den Widerstand organisiert, war Ende März verhaftet und wenige Wochen später ermordet worden. „Cherson ist die einzige Stadt in der Ukraine, in der die Menschen sich über das Geräusch von Explosionen freuen“, sagt Aljona. Kiselevka, ein Dorf 15 Kilometer entfernt von Cherson, in dem sie eine Tankstelle betrieb, sei bereits befreit worden.

Sie steht immer noch in Kontakt mit Leuten, die in Cherson geblieben sind und berichtet, dass die russischen Besatzer seit dem Beginn der Gegenoffensive immer brutaler würden. „Sie wissen, ganz Cherson ist gegen sie“, sagt Aljona Laptchuk. Jeder Mann gelte den Besatzern nun als verdächtig, jeden Tag verschwänden Menschen. „Den Ehemann einer engen Freundin haben sie vor zwei Wochen mitgenommen. Menschen werden ständig überprüft, entführt und gefoltert.“

In Mykolajiw heult der Luftalarm alle paar Stunden

Nicht alle Menschen im Süden freuen sich über den Beginn der Gegenoffensive. In Mykolajiw heult der Luftalarm alle paar Stunden, fast jeden Tag und jede Nacht schlagen russische Geschosse ein. Manche Menschen sind mürbe. In der Fußgängerzone sitzen Angela und eine Freundin vor ihrem kleinen Verkaufsstand, darauf liegen Frauenzeitschriften, Kalender und Heiligenbilder.

„Die Heiligenbilder verkaufen sich gerade gut“, erzählt Angela, sie ist Mitte fünfzig. „Die Menschen kleben sich die Bilder in ihre Fenster und hoffen darauf, dass sie helfen.“

Die Situation, sagt Angela, sei furchtbar. „Seit dem Beginn der Offensive hat der Beschuss massiv zugenommen, auch mein Haus ist beschädigt worden. Letzte Woche hatten wir an einem Tag zwölf Raketen. Wir weinen jeden Tag.“ Die Leute in der Regierung, schimpft sie, lebten in einer anderen Welt, auch die Menschen in Odessa oder Kiew. „Die liegen nicht jeden Tag unter Beschuss.“

Wenn sie in der Regierung wäre, sagt Angela, würde sie den Krieg sofort beenden. „Wir haben so viele Opfer. Wir verlieren die besten Menschen unseres Landes an der Front, die jungen Leute zwischen 25 und 40, die unsere Zukunft sein müssten. Ich sehe doch jeden Tag die Ambulanz-Kolonnen.“

Vom Elternhaus bleibt nur noch ein Haufen Trümmer

In einem Viertel im Osten Mykolajiws stehen Oleksandr Shulha und seine Schwägerin Tatiana in den Trümmern ihres Lebens. Drei Häuser hatte die Familie Shulha. Alle drei Häuser wurden bei einem russischen Angriff am Tag des Starts der Gegenoffensive zerbombt.

Oleksandr Shulga, hier im Gespräch mit Reporter Jan Jessen, steht vor seinem zerstörten Haus im Osten von Mykolajiw.
Oleksandr Shulga, hier im Gespräch mit Reporter Jan Jessen, steht vor seinem zerstörten Haus im Osten von Mykolajiw. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

„Wir haben erst zwei Explosionen weiter entfernt gehört, dann den Luftalarm, dann kam der Einschlag“, erinnert sich Oleksandr Shulha. „Meine Frau war vorne im Garten. Ihre Leiche habe wir hinter dem Haus gefunden.“ Jetzt ist von dem Haus seiner Eltern, in dem er 1956 geboren wurde, nur noch ein Haufen Trümmer übriggeblieben.

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Seine Schwägerin trägt den rechten Arm in einer Binde, er wurde bei der Explosion gebrochen. „Wir werden sterben, bevor wir Hilfe bekommen“, sagt sie und weint. Ihr Garten sei so schön gewesen, sie hätten Weinreben gehabt, und Obstbäume. „Jetzt haben wir nichts mehr. Ich schlafe manchmal bei Nachbarn, manchmal bei meiner Tochter.“

Sie schluchzt laut. „Warum haben das mit uns gemacht? Wir haben ihnen doch nichts getan.“ Zum Abschied sagt Tatiana Shulha: „Ich wünsche euch allzeit einen sicheren Himmel.“

Russische S-300-Raketen schlagen in der Nacht ein

In der Nacht auf Sonntag erschüttern gegen halb drei fünf ohrenbetäubende Explosionen das Stadtzentrum von Mykolajiw. Die Stadtverwaltung berichtet, es seien russische S-300-Raketen eingeschlagen. Drei Krankenhäuser, zwei Bildungseinrichtungen, ein Hotel, ein Museum und ein Wohngebiet seien beschädigt worden.

Zwei Männer stehen rauchend vor dem Gebäude, ihre Arme sind vergipst. Sie sind erst einen Tag zuvor eingeliefert worden. Es sind Soldaten, die verwundet worden. „Ich bin durch die Explosion wach geworden, ich war verwirrt“, sagt einer. „Ich habe gedacht, ich wäre noch im Schützengraben.“

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.