Berlin. Die Caritas-Präsidentin spricht sich für Gratis-ÖPNV für Hartz-IV-Empfänger aus und erklärt, warum eine „Generation Krise“ aufwächst.

Teure Lebensmittel, explodierende Gaspreise und das alles nach zwei Jahren Corona: Vor allem die Ärmsten können so viele gleichzeitige Krisen nicht tragen, sagt Eva Maria Welskop-Deffaa. Im Interview erklärt die Caritas-Präsidentin, wie die Bundesregierung jetzt helfen muss und warum sie sich über Christian Lindner ärgert.

Frau Welskop-Deffaa, die Caritas ist in Pflegeeinrichtungen aktiv, in Sozialstationen, bei der Hausaufgabenhilfe und an vielen anderen Stellen, die Einblick in die Gesellschaft geben. Was ist Ihr Eindruck, wie geht es den Menschen in Deutschland im Moment?

Eva Maria Welskop-Deffaa: Im Moment ist immer noch Urlaubszeit, die Menschen versuchen sich zu entspannen und zu erholen. Aber unter dieser sonnigen Oberfläche spüren wir unglaublich viel Verunsicherung. Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise setzen auf zwei Jahren Corona auf, und diese Krisen kombinieren und verstärken sich. Das erschüttert das Sicherheitsgefühl vieler Menschen aktuell tief.

Die Caritas berät Menschen zu zahlreichen Problemen, auch zum Thema Verschuldung. Wie hat sich die Nachfrage in den vergangenen Monaten entwickelt?

Welskop-Deffaa: Wir haben eine deutlich steigende Zahl von Anfragen, vor allem im Bereich der Miet- und Energieschulden. Das berichtet ein Drittel unserer Beratungsstellen. Als Hilfe bieten wir zum Beispiel den Stromspar-Check an. Menschen, die Transferleistungen bekommen, können sich in ihrem Haushalt kostenlos beraten lassen: zum Energiesparen bei Strom und Heizung. Aktuell gibt es das Angebot an 150 Standorten in Deutschland, üblicherweise kommen etwa 10 Standorte pro Förderperiode dazu. Für die nächste Phase haben wir jetzt bereits 58 neue Bewerbungen – die Kommunen stehen Schlange, die Nerven liegen blank.

Warum denn die Kommunen?

Welskop-Deffaa: Die Kommunen übernehmen zu einem gewissen Anteil die Heizkosten von Menschen, die Hartz IV bekommen. Und sie wissen, dass die mit den Gaspreisen drastisch nach oben gehen werden. Wenn es nicht gelingt, die Leute zum Energiesparen zu motivieren, gehen die Kommunen finanziell in die Knie. Und ausgerechnet jetzt fährt die Bundesregierung ihre Förderung für das Stromspar-Check-Programm zurück – statt für drei Jahre reicht das Geld aktuell nur für zwei. Das ist paradox. Es braucht den Stromspar-Check als Angebot für alle Wohngeldberechtigten. Und es braucht Hilfen beim Austausch stromfressender Geräte in den beratenen Haushalten. Das Programm ist notwendig, um überall zu zeigen: Teurer als jede Gasrechnung ist das Heizen mit Kuschelheizdecke und Heizlüfter.

Neue Entlastungen müssen gleichzeitig zur Gas-Umlage kommen, fordert Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa.
Neue Entlastungen müssen gleichzeitig zur Gas-Umlage kommen, fordert Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Wie wird sich die Gasumlage im Herbst auswirken?

Welskop-Deffaa: Die Umlage verteilt die Mehrkosten, die für den Ersatz russischer Gaslieferungen entstehen, auf alle Gaskunden. Das finde ich politisch richtig, wenn es nicht so wäre, würden große regionale Ungleichheiten entstehen. Was mir Sorgen macht, ist die Höhe. Ich fürchte, dass im Oktober fünf Cent pro Kilowattstunde auf die bereits gestiegenen Preise draufkommen. Und der nötige Ausgleich, die Wohngeldreform, wird nicht rechtzeitig da sein. Die Entlastungen müssen aber gleichzeitig kommen. Die Menschen, die die Hilfe am dringendsten brauchen, können nicht drei Monate überbrücken.

Was heißt das für Menschen mit geringen Einkommen, wenn die Entlastung nicht rechtzeitig kommt?

Welskop-Deffaa: Menschen mit kleinen Einkommen werden die Strom- und Gasrechnung schlicht nicht zahlen können. Es muss deshalb geregelt werden, dass es in dieser Notlage keine Strom- und Gassperren geben wird – egal, ob die Menschen ein, zwei, drei oder vier Monate im Rückstand sind. Die Regierung prüft gerade, wie sie die Gasumlage von der Mehrwertsteuer befreien kann. Wer viel heizt, wird dann viel Mehrwertsteuer sparen. Besser wäre: Wer wenig Geld hat, wird bei den Heizkosten gezielt unterstützt. Falls das neue Wohngeld zum Herbst nicht rechtzeitig kommt, sind die Mehrwehrsteuereinnahmen für eine weitere Einmalzahlung für Menschen mit wenig Geld gut zu nutzen.

Schon heute ist ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland armutsbetroffen. Wie wirkt sich die aktuelle Krise auf sie aus?

Welskop-Deffaa: Wir machen uns große Sorgen. Die Inflation, die neuen Geldsorgen, kommen in einer Situation, wo zwei Jahre Corona-Krise Kinder und Jugendliche schon erheblich psychisch belastet haben. Das Eis ist dünn. Ich rechne damit, dass wir in einigen Jahren deutlich mehr Kinder mit Lernschwierigkeiten haben werden, weil Kinder, die jetzt in der Kita sind, so viel Durcheinander, so viel Belastung erlebt haben. Da sind Ängste entstanden, schon bei kleinen Kindern. Jetzt kommen Bilder aus dem Krieg dazu und die Sorgen der Eltern vor dem Winter. Man versucht, die akuten Probleme mit Pflastern abzudecken, aber das hat alles langfristige Folgen.

Befürchten Sie, dass da eine Generation Krise heranwächst?

Welskop-Deffaa: Was die Kita-Kinder angeht, durchaus. Für unsere Kitas braucht es dringend mehr gesellschaftliche Achtsamkeit.

Kommen inzwischen Leute mit der Bitte um Rat und Hilfe zur Caritas, für die das im vergangenen Jahr noch undenkbar gewesen wäre?

Welskop-Deffaa: Ja. Eine Gruppe, die sich neu an uns wendet, sind die ‘kleinen’ Selbstständigen. Die haben keine gesetzliche Arbeitslosen- und keine gesetzliche Rentenversicherung. Die werden von der Krise voll erfasst. 36 Prozent unserer Beratungsstellen berichten über deutlich steigende Anfragen von Solo-Selbständigen. Das ist schon auffällig.

Im Gespräch sind noch weitere Entlastungen, zum Beispiel eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets. Würde das helfen?

Welskop-Deffaa: Das 9-Euro-Ticket hat dazu geführt, dass das Thema Mobilitätswende in den Fokus gerückt ist. Und das war wichtig, denn wir brauchen überzeugende Konzepte bei den Mobilitätskosten, wenn wir Versorgungssicherheit, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz verbinden wollen. Und die müssen wir verbinden. Wir setzen uns nachdrücklich dafür ein, dass für das 9-Euro-Ticket eine geeignete Nachfolgelösung kommt und dass für Hartz IV-Empfänger der ÖPNV gänzlich kostenlos ist. Das muss natürlich verbunden werden mit einem Ausbau des ÖPNVs, auch im ländlichen Raum. Fürs Erste wäre aber wichtig, dass das 9-Euro-Ticket verlängert wird.

Ärgert es Sie, wenn der Finanzminister eine solche Verlängerung ablehnt mit dem Verweis auf eine „Gratismentalität“?

Welskop-Deffaa: Ja, das ärgert mich. Er hat es nicht nötig, so herabsetzende Vokabeln zu nutzen. Er will ja auch nicht, dass ihm Gutsherrnmentalität vorgehalten wird, wenn er mit dem Porsche zu seiner Hochzeit fährt.

Es gibt die Sorge, dass die sozialen Folgen von Inflation und Krieg im Winter zu einer massiven Welle von Protesten führen könnten. Wie groß ist aus Ihrer Sicht diese Gefahr?

Welskop-Deffaa: Man darf hier keine selbsterfüllende Prophezeiung erzeugen. Aber ich kann meine Sorge nicht verhehlen. Es ist offenkundig, dass ein radikales Milieu am rechten Rand mit großer Aufmerksamkeit die Themen identifiziert, die das Potenzial haben, die Gesellschaft zu spalten. Wir haben das beim Infektionsschutzgesetz erlebt, bei dem jede Regelung den Kreislauf durch die Querdenker-Maschine genommen hat und als Aufreger missbraucht wurde. Ich glaube, wir könnten das auch bei den Energiethemen erleben. Es sind immer wieder dieselben Leute.

Haben Sie Angst, dass da ein wachsender Teil der Gesellschaft verloren geht?

Welskop-Deffaa: Das Entscheidende ist, dass die Gesetze, die in den Krisen erlassen werden, so wenig Probleme wie möglich machen und so gut wie möglich kommuniziert werden. Im Moment funktioniert das beim Infektionsschutz leider miserabel. Beim Energiethema ist es zum Glück vorläufig besser.