Berlin. Große Sorge vor Putins Kriegs-Rede bei der Parade am 9. Mai. Die Risiken, warum der Tag so wichtig ist und Joe Biden schon protestiert.

  • Am 9. Mai begeht Russland den Tag des Sieges“ über Nazi-Deutschland mit einer Parade
  • Wladimir Putin wird eine Rede halten
  • Wird er in seiner Ansprache mit Atomwaffenwaffen drohen?

Schon wieder eine russische Drohung mit dem Atomkrieg: Wenn Präsident Wladimir Putin am 9. Mai die große Militärparade zum „Tag des Sieges“ über Nazi-Deutschland abnimmt, donnern nicht nur die strategischen Langstrecken-Bomber für den Atomwaffeneinsatz vom Typ Tupolew 160 am Himmel über Moskau. Putin lässt demonstrativ auch sein „Weltuntergangs-Flugzeug“, den fliegenden Gefechtsstand für den Atomkrieg, über den Roten Platz kreisen.

Die Iljuschin Il-80 ist als Kommandozentrale für den Präsidenten gedacht, wenn am Boden im nuklearen Inferno nichts mehr geht. Seit einer Reihe von Jahren wurde sie nicht mehr bei der großen Militärparade gezeigt. Mitten im Ukraine-Krieg schon. Die Botschaft ist unmissverständlich, zumal russische Soldaten erst vor wenigen Tagen in Kaliningrad den Angriff mit Atomwaffen simuliert hatten. Wird es die einzige Drohung Putins sein?

9. Mai: Putins Propagandaschau

Oder bläst der Kremlherrscher gleich zur großen Mobilmachung, vielleicht sogar verbunden mit einer kriegerischen Ansage an den Westen? Ausgeschlossen scheint nichts mehr, solide Prognosen sind jedoch kaum möglich. Die Sorgen in Berlin und anderen westlichen Hauptstädten sind deshalb groß, aus Washington kommen schon vorab scharfe Worte. Klar ist aber nur: Russland steht ein großer Militäraufmarsch und eine gewaltige Propagandaschau bevor.

Panzer und Raketentransporter werden durch die Straßen von rund 30 Großstädten fahren, begleitet von zigtausenden Soldaten. Wie jedes Jahr feiert Russland am 9. Mai mit großem Aufwand den Tag, an dem 1945 im Zweiten Weltkrieg die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit das Ende der Kampfhandlungen in Kraft trat. In Deutschland war es damals 23.01 Uhr am 8. Mai, in Russland aber hatte wegen der Zeitverschiebung schon der 9. Mai begonnen.

In diesem Jahr werden weniger Soldaten mit weniger Gerät an den Paraden teilnehmen, die Truppen werden an der Front gebraucht. Doch der Feiertag selbst ist wichtiger denn je: Putin wird alles versuchen, die im Fernsehen übertragene Militärparade im Ukraine-Krieg für Propagandazwecke zu nutzen. Er wird erneut einen ruhmreichen Sieg der Armee beschwören wie vor 77 Jahren mit dem Ende des „Großen Vaterländischen Kriegs“. In Moskau werden Kampfflugzeuge am Himmel den Buchstaben Z bilden – das Symbol für die Unterstützung des Ukrainekriegs -, am Boden werden modernste Kampfpanzer T-14, , Luftabwehrsysteme S-400, Buk-M3 und Tor-M2, Raketenwerfer, Kampfroboter und Interkontinentalraketen für Atomwaffen gezeigt. 11.000 Soldaten werden an Putin und 131 Weltkriegs-Veteranen vorbeimarschieren.

Die von russischen Streitkräften besetzte ukrainische Hafenstadt Mariupol: Rauch steigt während des Beschusses aus dem Stahlwerk Azovstal auf.
Die von russischen Streitkräften besetzte ukrainische Hafenstadt Mariupol: Rauch steigt während des Beschusses aus dem Stahlwerk Azovstal auf. © dpa | Alexei Alexandrov

Erwartet wird eine Ansage des Kremlherrschers, wie es weiter geht mit dem Ukraine-Krieg. Putin könnte in seiner Rede auf die militärischen Erfolge im Süden und Osten der Ukraine, in Mariupol und Cherson verweisen, Pläne zur Annexion der eroberten Gebiete oder zur Gründung einer weiteren „Volksrepublik“ in der Südukraine präsentieren. Aber genügt ihm das? Der ukrainische Geheimdienst und westliche Analysten spekulieren, Putin werde offiziell den Krieg ausrufen – gegen die Ukraine, die Russland bislang nur zum Ziel einer „militärischen Spezialoperation“ erklärt hat.

Oder der Präsident erklärt den Krieg gegen den Westen insgesamt – was sicher nicht gleichbedeutend wäre mit einem realen Waffengang gegen die Nato, zu dem Russland derzeit kaum die militärischen Reserven hätte. Der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow hat diese rhetorische Ausdehnung des Konflikts auf den Westen in den letzten Tagen unter Berufung auf entsprechende Erkenntnisse prognostiziert. Putin könne nicht zugeben, dass er gegen die Ukraine verliere, deshalb brauche er einen größeren Gegner, glaubt Budanow.

Putins Krieg gegen Ukraine: So könnte es weiter gehen

So könnte der Präsident den Ukraine-Krieg schärfer als bisher zu einem weltweiten Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus umdeuten – und damit zu einer Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs. Der Weltkrieg ist in öffentlichen Erklärungen des Kreml ständiger Bezugsrahmen für aktuelle Kommentare. Putins enger Vertrauter Nikolai Patruschew wetterte vor wenigen Tagen, der heutige, moderne Westen und seine „ukrainischen Marionetten“ seien die „wahren Erben der Nazis“. US-Präsident Joe Biden konterte schon im Vorfeld des Gedenktages: „Präsident Putin versucht, die Geschichte zu verdrehen, um seinen unprovozierten und brutalen Krieg zu rechtfertigen“, sagte Biden in Washington.

Er bemühte sich seinerseits, das Kriegsgedenken in die aktuelle Auseinandersetzung einzubetten: Es gebe eine „heilige Pflicht“ gegenüber den im Zweiten Weltkrieg Gefallenen. Das bedeute, „die Wahrheit über die Vergangenheit zu sagen und alle jene zu unterstützen, die in unserer Zeit für die Freiheit eintreten.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Mit einer Kriegserklärung Putins einher ginge der Beginn einer Mobilmachung. Die nach zehn Kriegs-Wochen deutlich geschwächte russische Armee könnte dann zehntausende, vielleicht auch hunderttausende Reservisten und Wehrpflichtige einziehen. Ein Prozess, der allerdings Monate dauern würde. Es wäre aber auch ein Signal der Entschlossenheit an den Westen. Doch geht Putin wirklich so weit? Der Kreml hat die Spekulationen zu Kriegserklärung und Mobilmachung als „Unsinn“ zurückgewiesen, was alles und nichts bedeuten kann.

Pläne für Siegesparade in Mariupol

Ein Mann geht an einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol vorbei.
Ein Mann geht an einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol vorbei. © dpa | Alexei Alexandrov

Doch auch unabhängige Experten wie der US-Militäranalyst Michael Kofman winken ab. Bis jetzt könne Putin selbst bestimmen, was ein Sieg in der Ukraine sei, sagt Kofman. Mit der Massenmobilisierung würde der Präsident die Kontrolle über die Kriegsdeutung verlieren. Erst wenn Putin glaube, dass die Armee im Donbass gegen die Ukraine verliere, würde er diese Mobilisierung ausrufen, meint Kofman. Längst ist im Westen auch die rhetorische Gegenoffensive im Gang: Eine russische Kriegserklärung am „Tag des Sieges“ wäre eine „große Ironie“, erklärt der Sprecher des amerikanischen Außenministeriums. Es würde der Welt zeigen, dass die russischen Kriegsanstrengungen scheiterten, dass sie mit ihrem Feldzug und ihren militärischen Zielen ins Wanken geraten seien.

Tatsächlich wäre die Mobilmachung nur notwendig, wenn Putin für den Sommer eine neue Großoffensive planen sollte. Dafür reichten die vorhandenen Kräfte nicht mehr, glaubt Kofman. Doch könnte Putin diese Entscheidung genauso vertagen und versuchen, die bisherigen militärischen Landgewinne als Erfolg seiner „Spezialoperation“ zu feiern. Die endgültige Einnahme Mariupols wäre der passende symbolische Sieg im Ukraine-Krieg. In der weitgehend zerstörten, aber strategisch wichtigen Hafenstadt wird möglicherweise eine besonders wichtige Siegesparade stattfinden. Dort wurden bereits Straßen geräumt, nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes sind wichtige Kreml-Beamte vor Ort, um die Vorbereitungen für die Feier zu überprüfen. Und auch russische Fernsehsender sollen Teams und Moderatoren in die Hafenstadt entsandt haben.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.