Berlin. Wie der Krieg weitergehen könnte: Militärexperten fürchten eine böse Wende am 9. Mai. Oder befiehlt Putin bald eine Angriffspause?

  • Auch mehr als zwei Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das Regime von Wladimir Putin weiter weit von seinen militärischen Zielen entfernt
  • Der Vormarsch Russlands ist vielmehr ins Stocken gekommen
  • Experten rechnen mit einer wichtigen Wende am 9. Mai: Ruft Putin die Generalmobilmachung aus? Oder doch eine Waffenpause? Vier Szenarien, wie es im Ukraine-Krieg jetzt weitergehen könnte

Im Ukraine-Krieg sind die nächsten Wochen entscheidend: Die Ukraine fürchtet im Mai eine verstärkte Offensive der russischen Armee, auch die US-Regierung ist besorgt. Doch unklar ist, was folgt: Waffenstillstand vor dem Sommer? Oder eine offizielle Kriegserklärung Russlands, die den Konflikt verschärfen würde? Oder sucht Russlands Präsident Wladimir Putin die Eskalation? Vier Szenarien, wie es weitergehen könnte.

Szenario 1: Waffenstillstand nach russischem Erfolg

Russland will jetzt mit aller Kraft einen Sieg im Donbass erzwingen. Westliche Militärexperten halten es für möglich, dass die Truppen bis Ende Mai oder Juni ausreichend große Gebietsgewinne im Osten erzielen, durch die Präsident Wladimir Putin einen Erfolg verkünden und die Angriffe beenden könnte, bevor schwere Waffen aus dem Westen in größerer Zahl eintreffen. Die nächsten Wochen seien entscheidend und für die Ukraine „sehr, sehr kritisch“, sagt US-Generalstabschef Mark Milley.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow schwört seine Armee auf „äußerst schwierige Wochen“ mit großen Zerstörungen und Verlusten ein. Russlands offizielles Ziel für diese „zweite Phase“ ist ein Landkorridor von Russland zur Krim und die „völlige Kontrolle über den Donbass“. Ob das gelingt, ist unklar. Bislang rückt die russische Armee nur langsam vor. Sie sammelt weitere Kräfte, dürfte ihre Brutalität erhöhen und wird versuchen, im Donbass ukrainische Truppen einzukesseln.

Experte: Russland wird nicht ohne Donezk und Luhansk aufhören

Der Russlandexperte András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin sagte unserer Redaktion: „Russland wird sich nicht aufhalten lassen, bevor nicht die gesamten Regionen Luhansk und Donezk eingenommen sind. Das wird bis zum 9. Mai noch nicht erreicht sein, das kann noch sechs oder acht Wochen dauern.“ Wahrscheinlich habe die russische Armee derzeit – ohne Mobilmachung – aber nicht genug Kraft, um wesentlich mehr Gebiete zu erobern als Donezk, Luhansk und das, was sie bereits in den Regionen Cherson und Saporischschja erzielt habe.

Das ist Putins Geliebte

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    Der frühere Nato-General Hans-Lothar Domröse sagte unserer Redaktion, die russischen Truppen könnten bald Mariupol und Charkiw eingenommen und erhebliche Landgewinne erzielt haben. „Das genügt vielleicht, damit Putin sagen kann, die Mission sei erfolgreich abgeschlossen.“ Aber, warnt Domröse: Damit wäre der Konflikt auf längere Sicht nicht zu Ende. Sowohl in der Ukraine als auch in westlichen Hauptstädten wird befürchtet, dass Putin seine ursprünglichen Kriegsziele weiterverfolgt und früher oder später doch wieder die Hauptstadt Kiew angreifen will. Dieses Misstrauen würde eine Einigung auf einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen erschweren. Es ist unklar, ob sich die Ukraine auf entsprechende Angebote Putins einlassen würde.

    Putin aber braucht einen vorzeigbaren Erfolg, seine Armee eine Einsatz-Pause: Die Streitkräfte sind angesichts hoher Verluste bei Soldaten und Waffen geschwächt, westliche Militärexperten sehen ihre Kampfkraft schon auf 75 Prozent geschrumpft. „Nach dieser Offensive sind die Kräfte erschöpft“, glaubt der US-Militäranalyst Michael Kofman.

    Szenario 2: Russische Generalmobilmachung

    In diesem Szenario bleibt die russische Offensive wegen schlechter Vorbereitung und der starken ukrainischen Verteidigungsstellungen bald stecken. Der Krieg geht ohne Zäsur weiter, vielleicht in geringerer Intensität: Darauf setzen offenbar ukrainische Strategen. Der Abnutzungskrieg könnte viele Monate oder sogar Jahre dauern, in denen die Ukraine mit westlicher Waffenhilfe versuchen würde, die Russen wieder zurückzudrängen. Der Konflikt könne dem Stellungskrieg im ersten Weltkrieg ähneln, glauben Fachleute in der Nato. Einige Militärexperten sehen die Chance für die Ukraine, nach einiger Zeit einen „Abnutzungssieg“ zu erzielen und Russland zu Zugeständnissen bei den Verhandlungen zu zwingen; darauf beziehen sich wohl auch die Äußerungen von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die Ukraine könne den Krieg gewinnen.

    Allerdings könnte sich die Lage ändern, wenn Putin eine größere Mobilmachung anordnen sollte – um dann mit frischen Kräften im Sommer eine Großoffensive zu starten.

    Der russische Präsident Wladimir Putin,
    Der russische Präsident Wladimir Putin, © dpa | Vladimir Astapkovich

    Ruft Putin am 9. Mai offiziell den Krieg aus?

    Die Zeichen dafür mehren sich. Vor allem britische und amerikanische Experten spekulieren, dass Putin bei der jährlichen Militärparade am 9. Mai offiziell den Krieg ausrufen wird und damit die „spezielle Militäroperation“ auch für die Bürger ausweitet. Zur Vorbereitung dieser Wende werde bereits die russische Propaganda verschärft, heißt es in einem brisanten Report, den Militärforscher des Londoner Rusi-Instituts für Sicherheitsstudien gerade vorgelegt haben.

    NameWladimir Wladimirowitsch Putin
    Geburtsdatum7. Oktober 1952
    GeburtsortSankt Petersburg
    SternzeichenWaage
    AmtPräsident der Russischen Föderation
    Im Amt seit2000 (Unterbrechung von 2008 bis 2012)
    FamilienstandGeschieden, mindestens zwei Kinder
    Größeca. 1,70 Meter

    Putin würde damit erhebliche innenpolitische Risiken eingehen, er hätte nicht mehr die volle Kontrolle über die Kriegsdeutung und wäre erst recht gezwungen, Erfolge vorzuweisen. Aber der militärische Vorteil ist klar: „Eine Kriegserklärung würde Moskau in die Lage versetzen, eine Massenmobilisierung anzuordnen und in wenigen Monaten Zehntausende weitere Soldaten einzusetzen“, sagt Russlandexperte Rácz.

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    Szenario 3: Verhandlungslösung beendet den Krieg

    Im Moment scheint eine Einigung am Verhandlungstisch kaum möglich, auch wenn die Gespräche weitergehen. Beide Seiten werfen sich gegenseitig fehlende Verhandlungsbereitschaft vor. Die Ukraine ist zwar bereit, über eine dauerhafte Neutralität des Landes zu sprechen – Putins Forderungen nach einer Demilitarisierung und Gebietsverzichten im Osten und Süden lehnt die Regierung aber ab. Der Ukraine-Experte Wilfried Jilge sagt, es fehle an vertrauensbildenden Maßnahmen und an einem Vermittler. Sollte Putin Ende Mai die Angriffe einstellen, könnte aber Bewegung in die Gespräche kommen.

    Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

    Szenario 4: Eskalation bis zum Dritten Weltkrieg

    Eine Eskalation in der Ukraine, etwa durch den russischen Einsatz von kleineren, taktischen Atomwaffen oder chemischen Waffen, gilt als denkbar, wenn Russland anders eine militärische Niederlage nicht abwenden könnte. Danach sieht es aber nicht aus. Russland droht zugleich, den Krieg auszuweiten, wenn der Westen sich stärker mit Waffenhilfe einmischt. Putin spricht von „blitzschnellen Schlägen“, die vorbereitet seien. Droht dann ein Weltkrieg?

    Wohl kaum. Sicherheitsexperten glauben, dass Putin den Westen nur einschüchtern will. „Putin will die westlichen Gesellschaften verängstigen und spalten“, sagt Claudia Major von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung berät. Tatsächlich habe Russland bislang alles getan, um eine Eskalation mit der Nato zu vermeiden, meint Major.

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    Eine solche Eskalation wäre theoretisch am ehesten denkbar, wenn Russland Angriffe auf Waffenlieferungen in einem Nato-Land unternimmt – also etwa in Polen einen Zug mit Panzern für die Ukraine bombardiert. Aber das Risiko für Putin wäre immens, die Nato wäre auf Gegenschläge vorbereitet. Russland hat nach Einschätzung von Nato-Militärs auf absehbare Zeit gar nicht die militärische Kapazität, eine neue Front gegen den Westen zu eröffnen.

    Westliche Geheimdienste, die sehr genau jede Bewegung um die russischen Atomwaffendepots beobachten, haben auch keinerlei Anzeichen, dass Putin einen Nuklearangriff vorbereiten könnte. Mit Störmanövern, die den Westen irritieren sollen, ist nach Einschätzung von erfahrenen Militärs allerdings weiter zu rechnen so wie jetzt in Transnistrien. „Das ist ein russischer Ablenkungsversuch“, sagt der frühere US-Oberkommandierende in Europa, Ben Hodges. „Für einen militärischen Einsatz dort hat Russland im Moment gar nicht die Kraft.“

    Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de