Berlin. Ein Vergleich zeigt, wie groß Russlands Eroberungen in der Ukraine wirklich sind. Der Preis ist hoch: Fakten zu Opfern und Schäden.

  • Seit Ende Februar greift Russland die Ukraine an
  • Doch was hat Putin seitdem erreicht?
  • Welche Gebiete er erobert hat und wie viele Opfer der Krieg bisher gefordert hat

Zwischenbilanz zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Was hat der Krieg dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eigentlich bisher gebracht? Welche Landgewinne könnte er als Erfolg verkünden? Die Kosten des völkerrechtswidrigen Krieges sind so oder so gigantisch: Die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörungen steigen, die politischen Folgen wiegen schwer. Eine Bilanz des Schreckens: Die sechs wichtigsten Fakten zum Stand im Ukraine-Krieg.

Das hat Russland in der Ukraine erobert:

Die russische Offensive im Norden, die geplante Einnahme der Hauptstadt Kiew, ist krachend gescheitert. Mit dem Rückzug verfehlt Russland auch das Ziel eines Regimewechsels. Doch die Niederlage verstellt den Blick auf Putins Eroberungen im Osten und Süden des Landes.

Seit Ende Februar hat die russische Armee dort erhebliche Landgewinne gemacht und grob gerechnet eine Fläche etwa von der Größe Ostdeutschlands besetzt. Über ein Fünftel der Ukraine steht mit diesen feindlichen Landnahmen unter russischer Kontrolle, wenn man die schon 2014 annektierte Halbinsel Krim mit berücksichtigt. Würde man die verlorene Fläche auf Deutschland übertragen, wäre die Bundesrepublik jetzt um ein gutes Drittel kleiner.

Im Süden und im Nordosten der Ukraine sind die russischen Streitkräfte in einer Tiefe von bis zu 150 Kilometern und mehr und in einer Breite von rund 700 Kilometern vorgerückt. Zwischen beiden Abschnitten liegen die vergleichsweise kleinen „Volksrepubliken“ Luhansk und Donetsk, die schon vorher von prorussischen Separatisten kontrolliert wurden und in die das russische Militär zu Kriegsbeginn ungehindert einmarschiert ist. Im Süden sind die strategisch wichtigen Städte Mariupol und Cherson von russischen Truppen besetzt; die Stadt Severodonetsk ist umzingelt.

Im Norden kämpfen die Russen bislang vergeblich um die Stadt Charkiw. Das Ziel, eine Landbrücke von Russland zur besetzten Halbinsel Krim herzustellen, ist aber erreicht. Der russische Plan ist, weiter nach Westen vorzurücken, den gesamten Donbass einzunehmen und die ukrainischen Kräfte einzukesseln. Doch diese Offensive geht nur langsam voran, auch wenn der Kreml behauptet, „die Operation läuft nach Plan“. Schon kündigt die ukrainische Armee eine Gegenoffensive für Juni an.

So viele zivile Opfer hat der Ukraine-Krieg gefordert:

Die Vereinten Nationen zählen in der Ukraine bislang mindestens 3.300 getötete und 3.400 verwundete Zivilisten. Die Zahlen beziehen sich nur auf die bislang bestätigten Opfer – es seien wohl wesentlich mehr Menschen ums Leben gekommen oder verletzt worden, räumt das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte ein. Die Untersuchungen laufen noch, auch in jenen Städten, in denen die russischen Truppen gezielt Kriegsverbrechen verübt haben. Die ukrainische Regierung spricht von mindestens 10.000 zivilen Todesopfern und möglicherweise bis zu 15.000 weiteren in der Hafenstadt Mariupol.

Die von russischen Streitkräften eingenommene Hafenstadt Mariupol: Dieses Satellitenbild zeigt Schäden am Stahlwerk Azovstal.
Die von russischen Streitkräften eingenommene Hafenstadt Mariupol: Dieses Satellitenbild zeigt Schäden am Stahlwerk Azovstal. © dpa | Planet Labs Pbc

So viele Soldaten sind im Ukraine-Krieg gefallen:

Die russischen Streitkräfte haben nach Schätzungen von Nato-Militärs bisher rund 15.000 Soldaten verloren, fast ein Zehntel der eingesetzten Truppen – eine unerwartet hohe Zahl. Ukrainische Stellen vermuten sogar 24.500 Todesopfer in der russischen Armee. Die letzte offizielle Angabe aus Moskau liegt bei 1300 gefallenen Soldaten Ende März. Die Einbußen an Waffen mitgerechnet - über tausend Panzer, fast 200 Kampfflugzeuge hat Russland bisher verloren – gehen westliche Militäranalysten davon aus, dass die russischen Streitkräfte ein Viertel ihrer Kampfkraft eingebüßt haben.

Die genauen Verlust-Zahlen sind umstritten, sie lassen sich nicht überprüfen. Das gilt ebenso für die ukrainische Seite: Deren Verluste werden, wie andere Details des Kriegsverlaufs auch, von Kiew und westlichen Staaten nur spärlich kommuniziert. Die Regierung in Kiew sprach Mitte April von 3000 gefallenen und 10.000 verletzten Soldaten in der ukrainischen Armee.

So viele Menschen sind vor dem Ukraine-Krieg geflohen:

Laut UN-Flüchtlingskommissar sind mehr als 5,7 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Rund 600.000 von ihnen sind in Deutschland registriert worden, 80 Prozent der erfassten Flüchtlinge hier sind Frauen. Ein Teil der Flüchtlinge ist bereits wieder in die Ukraine zurückgekehrt, genaue Zahlen gibt es noch nicht: Allein von Polen aus sollen aber zeitweise 20.000 Ukrainer am Tag wieder in ihr Heimatland gereist sein.

So groß ist das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine

Russland hat rund 2125 Raketen auf ukrainische Ziele abgefeuert und mehr als 2000 Luftangriffe geflogen. Die Folgen sind gewaltig: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi gibt die Schäden mit bislang fast 600 Milliarden Euro an. Die Zahl stammt aus einer aktuellen Untersuchung von Wissenschaftlern der Kiewer Hochschule „School of Economics“. Demnach waren Ende April 33 Millionen Quadratmeter Wohngebäude zerstört, grob geschätzt also rund 500.000 bis 600.000 Wohnungen. Mehr als 23.000 Kilometer Straßen seien reparaturbedürftig, 90.000 Autos wurden bei den Angriffen getroffen.

Dazu kommen mindestens 195 Fabriken, 230 Krankenhäuser, 940 Schulen, 540 Kindergärten und 95 Kirchen, die schwer beschädigt oder zerstört wurden. Angaben zu den zerstörten militärischen Einrichtungen fehlen. Der Schrecken ist nicht zu Ende: Russische Bombardements würden weiter wöchentlich tausende Gebäude in Mitleidenschaft ziehen oder in Trümmer legen, Woche für Woche nähmen die Schäden um rund vier Milliarden Euro zu, so die Untersuchung. Die ukrainische Wirtschaft wird dieses Jahr wohl um ein Drittel schrumpfen.

Auswirkungen des Krieges auf Europa: Aufrüstung, atomare Abschreckung und Kriegswirtschaft

Putin hat vor dem Krieg einen Rückzug der Nato aus Osteuropa gefordert, erreicht hat er das glatte Gegenteil: Die Nato hat bereits mit einer verstärkten Truppenpräsenz in Osteuropa auf die neue Lage reagiert, Finnland und Schweden werden dem Bündnis wohl bald beitreten. Die von den USA angeführte Allianz zeigt sich angesichts des Krieges in der Nachbarschaft unerwartet einig und zeigt Putin die Zähne. Dass auch die Ukraine Nato-Mitglied wird, ist derzeit unwahrscheinlich, das Land wird aber umfassende Militärhilfe erhalten und eng an die EU angebunden.

Denn aus westlicher Sicht ist klar: Mit dem russischen Angriffskrieg ist die europäische Sicherheitsordnung, die auf Gewaltlosigkeit und Unverletzlichkeit der Grenzen beruhte, endgültig obsolet. Putins wiederholte Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen stellen bisherige Risiko- und Abschreckungskalkulationen des Westens in Frage: Misstrauen, eine erhöhte Verteidigungsbereitschaft, verstärkte Aufrüstung des Westens und eine Strategie der „Worst-Case-Szenarien“ mit eingefrorenen Beziehungen zu Moskau werden die Konsequenz sein. Putin wird sich gezwungen sehen, seinerseits mit neuen Rüstungsanstrengungen zu reagieren. Die dauerhaften politischen und militärischen Kosten der neuen Unsicherheit in Europa werden die eigentlichen Kriegskosten wohl um ein Vielfaches übertreffen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de