Berlin. Manfred Weber, Vorsitzender der Christdemokraten im Europaparlament, über den 9. Mai und die Gefahr einer Eskalation des Ukraine-Krieges.

Die Welt schaut bang auf den 9. Mai, an dem Russland den Sieg über Nazi-Deutschland feiert. Was bedeutet das für den Ukraine-Krieg? Droht eine atomare Eskalation? Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, gibt Antworten.

Was hat Putin am 9. Mai vor?

Manfred Weber: Der 9. Mai ist für Russland ein zentraler Gedenktag, auf den die russische Propaganda ausgerichtet ist. Wir müssen uns leider auf weitere Eskalationen vorbereiten. Putin hat spätestens in den letzten Monaten jegliche Maske fallen lassen. Es wird ihm schwer fallen, die westlichen Verbündeten noch zu überraschen. Das System Putin steht unter starkem Druck, das macht die Lage gefährlich. Es ist tragisch, dass gerade ein für die Russinnen und Russen so elementarer Tag missbraucht wird. Russland ist heute eine Diktatur, ein im Grunde faschistischer Staat, der zurückfällt in Zeiten des Imperialismus. Das ist das Gegenteil vom europäischen Gedanken, der für Miteinander und Freundschaft steht und den längsten Frieden in der Geschichte Europas ermöglicht hat. Putin pervertiert den 9. Mai. Das frühere Opfer ist jetzt der eindeutige Aggressor.

Was ist das Ziel des Westens in diesem Krieg: Putins Niederlage, der komplette Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine - einschließlich Donbass und Krim?

Weber: Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Er würde nach einem Erfolg nicht aufhören und die Sicherheit in ganz Europa wäre in Gefahr. Putin hat mehrfach klargestellt, dass sein Kampf gegen den liberalen Westen geht, dass er eine von Moskau geführte und gelenkte Eurasische Union erschaffen will. Werte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit würden dort keinen Platz finden. Es darf aber einzig die Entscheidung der souveränen und angegriffenen Ukraine sein, zu welchen Konditionen sie einen möglichen Waffenstillstand oder Frieden akzeptiert. Egal was die kommenden Monate bringen: Es wird und kann kein Zurück zum früheren Appeasement mit Putin geben. Das verbrecherische System Putin muss dauerhaft von der Weltgemeinschaft geächtet werden. Auch die Sanktionen können nicht gelockert werden, solange die Ukraine nicht ihre volle territoriale Souveränität zurückerlangt hat.

Manfred Weber, Vorsitzender der Christdemokraten im Europaparlament.
Manfred Weber, Vorsitzender der Christdemokraten im Europaparlament. © IMAGO / Future Image

Geht es Ihnen darum, Putin militärisch zu besiegen?

Weber: Es herrscht Krieg in Europa – und leider werden Kriege zumeist auf dem Schlachtfeld entschieden. Das ist sehr bitter, aber realistisch. Die Unterstützung der ukrainischen Selbstverteidigung, die Lieferung von Waffen hat daher nach wie vor absolute Priorität. Putin muss zur Erkenntnis kommen, dass die Ukraine militärisch im Kern nicht zu besiegen ist. Bei den wirtschaftlichen Sanktionen ist die Geschlossenheit der westlichen Verbündeten entscheidend. Wir dürfen uns aber auch nicht von denen blockieren lassen, die aus unterschiedlichen Gründen Sanktionen aufhalten. Das Öl-Embargo ist ein wichtiges Signal, aber es kommt zu langsam.

Sollte Deutschland mehr tun?

Weber: Die Bundesregierung ist endlich sichtbar bei den starken Ukraine-Unterstützern angekommen. Es ist sehr bedauerlich, dass der Bundeskanzler so lange gebraucht hat, die notwendigen Signale zu senden. Wir dürfen uns nichts vormachen: Neben den USA kommt es in diesem Konflikt besonders auf Deutschland an. Ich halte es für sehr wichtig, dass Bundeskanzler Scholz baldmöglichst nach Kiew reist, am besten gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er muss sich vor Ort die Gräuel anschauen, die durch russische Truppen mit voller Absicht verursacht werden und ein in aller Welt sichtbares Zeichen der Solidarität mit der Ukraine setzen. Lesen Sie den Kommentar: Ukraine-Krieg: Deutschlands Hilfe kann sich sehen lassen

Damit würde Moskau verstehen: Sie können nicht mehr auf die heimlichen Putin-Freunde in der SPD bauen. Deutschland steht. Zudem müssen Deutschland und Frankreich jetzt langfristige und grundsätzliche Antworten auf die Zeitenwende in Europa geben. Die EU-Einstimmigkeit bei Sanktionsbeschlüssen und in der Außenpolitik müssen fallen, Europa endlich handlungsfähiger werden. Und wir brauchen den Aufbruch hin zu einer echten europäischen Verteidigungsunion. Die EU-Eingreiftruppe, eine gemeinsame Cyber-Abwehr oder ein europäischer Raketenschutzschirm sind viel effizienter und billiger als nationale Alleingänge. Es wäre ein historischer Fehler, wenn wir aus dieser Zeitenwende die falschen Schlüsse ziehen.

Wie groß ist jetzt die Gefahr eines Atomkrieges?

Weber: Russlands Führung nutzt das Argument, um die westlichen Staatengemeinschaft zu spalten und die Bevölkerung zu verunsichern. Um einen Atomkrieg zu verhindern, ist entscheidend, dass die atomare Abschreckung durch den Schutzschirm der USA für die europäischen Verbündeten funktioniert. Und das ist vollumfänglich der Fall. In der Tat ist aber natürlich mit Sorge zu sehen, dass die atomare Bedrohung zurück in der Diskussion ist. Es braucht deshalb einen kühlen Kopf beim Umgang mit der Situation.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt