Berlin. NRW-Regierungschef Hendrik Wüst (CDU) fordert eine Energiepreis-Bremse: Die Mehrwertsteuer soll sinken, die Pendlerpauschale steigen.

Hendrik Wüst ist amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, die am Donnerstag wichtige Entscheidungen zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine treffen will. Im Interview mit unserer Redaktion sagt der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, auf welche Entlastungen die Kommunen und die Bürger hoffen dürfen – und welche Rolle Friedrich Merz im NRW-Wahlkampf spielen wird.

Herr Ministerpräsident, Sie haben die furchtbaren Bilder aus Butscha gesehen. Putins Armee hat ein Massaker an der Zivilbevölkerung begangen. Wie muss Deutschland reagieren?

Diese schrecklichen Bilder sind kaum zu ertragen. Sie führen der ganzen Welt vor Augen, dass Putin keine Scheu vor schlimmsten Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hat. Die Reaktion des Westens kann nur einheitlich und klar sein. Leider tut sich die Bundesregierung schwer, entschlossen zu reagieren. Das gilt für Sanktionen wie für Waffenlieferungen. Dabei sollten wir gemeinsam mit Frankreich an der Spitze der europäischen Unterstützung für die Ukraine stehen – unmissverständlich und unverhandelbar.

Sind Sie dafür, alle Energielieferungen aus Russland zu stoppen?

Wir müssen so schnell es geht unabhängig werden von russischen Energielieferungen. Wann das möglich sein wird, hängt ganz maßgeblich von der Frage ab, wie erfolgreich die Bundesregierung beim Einkauf von Energie aus anderen Quellen ist. Kurzfristig hat die Versorgungssicherheit oberste Priorität. Es geht um pragmatische Lösungen für die Energieversorgung in den kommenden Monaten.

Spritpreise: Wüst will verhindern, dass Menschen Probleme beim Arbeitsweg bekommen

Die Ampelregierung will den Kohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vorziehen. Wie realistisch ist das in dieser Lage?

Ich bin sehr dafür, den Kohleausstieg bis 2030 zu schaffen. In der jetzigen Situation brauchen wir dabei maximalen Pragmatismus, damit Versorgungssicherheit und Preisstabilität gewährleistet bleiben.

Was bedeutet das für die Kernkraft? Bleibt es dabei, dass die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland zum Jahreswechsel abgeschaltet werden?

Es sei nicht möglich - so berichtet es die Bundesregierung - die Atommeiler nahtlos weiter zu betreiben. Umso wichtiger ist: Wir müssen beim Kohleausstieg das Jahr 2030 im Blick behalten und zugleich maximale Flexibilität zeigen, wenn es um die Bereitstellung von Reservekapazitäten geht.

Der Krieg hat schon jetzt schwere Folgen für die Energieversorgung. Auf welche Einschränkungen müssen sich die Bürger einstellen?

Die Spritpreise dürfen nicht so hoch sein, dass Menschen Probleme haben, zur Arbeit zu kommen. Gerade im ländlichen und suburbanen Raum sind die Menschen auf ihr Auto angewiesen. Auch eine warme Wohnung darf nicht zum Luxus werden. Deswegen setzt sich die nordrhein-westfälische Landesregierung im Bundesrat für eine Energiepreisbremse ein: Senkung der Mehrwertsteuer, Senkung der Energiesteuer, stärkere Unterstützung für einkommensschwache Haushalte und Erhöhung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer.

Es geht Ihnen um ein weiteres Entlastungspaket.

Die Entlastungspakete der Ampelregierung sind ein erster richtiger Schritt, aber sie sind nicht ausreichend, um Menschen und Wirtschaft vor den enormen Preissteigerungen zu schützen - vor allem nicht nachhaltig und nicht ausreichend spürbar. Ganze Bevölkerungsgruppen – zum Beispiel Rentner oder Freiberufler - werden nicht ausreichend berücksichtigt. Es wäre die bessere Lösung, den Energiepreis für alle zu senken, indem man den Steueranteil reduziert.

Putins Krieg treibt Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in die Flucht. Wie viele kann Deutschland aufnehmen?

Die Aufnahmebereitschaft in Privathaushalten und Kommunen ist groß, das Engagement von Hilfsorganisationen und Zivilgesellschaft riesig. Diese Menschlichkeit und Nächstenliebe, die wir momentan in Deutschland erleben, berührt sehr. Es ist trotzdem wichtig, dass sich die Bundesregierung noch intensiver dafür einsetzt, eine bessere Verteilung der Flüchtlinge in Europa zu ermöglichen. Europa ist am stärksten, wenn es geeint handelt.

Welche Unterstützung brauchen die Kommunen?

Die Städte und Gemeinden leisten wirklich Großartiges. Sie stellen Unterkünfte bereit, schaffen Kapazitäten in Kitas und Schulen, kümmern sich um psychosoziale Betreuung. Die Aufnahme der Flüchtlinge ist ein Kraftakt – auch finanziell. Diese Kosten müssen den Kommunen erstattet werden. Darüber verhandeln wir gerade mit dem Bund, das wird auch zentrales Thema bei der Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag sein. Unsere Kommunen brauchen unsere volle Unterstützung. Der Bund kann es sich nicht erlauben, die Helfer vor Ort im Stich zu lassen. Die jetzige Lage ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Die Rhetorik der Hilfsbereitschaft muss sich beim Bund in konkreten Taten und Zahlen messen lassen.

An welche Größenordnung denken Sie?

Ich werbe sehr dafür, mit Pauschalen pro Person zu arbeiten und nicht mit Einmalzahlungen. Die Vereinbarungen sollten auch nicht befristet werden. Sonst müssen wir ständig nachverhandeln. Kita, Schule, psychosoziale Betreuung, besondere Leistungen für Geflüchtete mit Behinderungen und Waisenkinder - all das ist jetzt so wichtig, aber eben auch so kostenintensiv. Faire und verlässliche Hilfe für die Kommunen ist jetzt das Gebot der Stunde.

Die Flüchtlinge werden nicht registriert, wenn sie nach Deutschland einreisen. Droht ein Kontrollverlust wie 2015/16, als viele Syrer kamen?

Die Registrierung der Flüchtlinge sollte für den Bund eine größere Rolle spielen. Wir brauchen Ordnung und Struktur. Die Bundesregierung hat hier eine Verantwortung, der sie besser gerecht werden muss. Es ist gut, dass der Bund seine Pflicht, für eine Koordination und Verteilung zu sorgen, bestätigt hat.

Verantwortung hat die Regierung auch für die Bundeswehr, die nach Darstellung ihres Heeresinspekteurs „mehr oder weniger blank“ dasteht, aber jetzt für 100 Milliarden Euro modernisiert werden soll. Wohin soll das Geld fließen?

Die 100 Milliarden dürfen für nichts Anderes als für die Verteidigung ausgegeben werden. Mir ist wichtig, dass wir das Thema Verteidigung europäischer denken. Es ist nicht zeitgemäß, dass EU-Staaten Waffensysteme alleine entwickeln oder anschaffen. Eine engere Zusammenarbeit bei der Verteidigung wird auch dazu führen, dass wir für die 100 Milliarden mehr bekommen.

Die Bundesregierung will im Alleingang ein neues Raketenabwehrsystem anschaffen.

Die Idee, europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu stärken, gibt es seit vielen Jahren. Sie ist aber meist an nationalen Egoismen gescheitert. Gemeinsam sind wir stärker. Das gilt auch für die Modernisierung der Bundeswehr und die Anschaffung eines Raketenabwehrschirms.

In sechs Wochen wird in Nordrhein-Westfalen gewählt. Wie wollen Sie verhindern, dass es Ihnen ergeht wie Tobias Hans im Saarland?

Ich hätte mir im Saarland einen Wahlsieg der CDU sehr gewünscht. Aber die Situation ist nicht vergleichbar. Es bestehen große Unterschiede zwischen unseren Ländern, auch in der politischen Landschaft. In Nordrhein-Westfalen gibt es klare Alternativen und keinen Wettlauf zwischen zwei Koalitionspartnern. Deswegen wird es auch ein anderes Ergebnis geben.

Eine Mehrheit der Bevölkerung in NRW - das zeigen Umfragen - wünscht sich eine SPD-geführte Landesregierung …

Dieser Anteil wird kleiner, und Umfragen sind Umfragen. Wir haben in den vergangenen fünf Jahren sehr viel geschafft, um unser Land voranzubringen und wir haben noch viel vor bei der Inneren Sicherheit, sicheren Arbeitsplätzen und mehr Lehrern für kleinere Klassen. Das ist es, was am Ende zählt. Es motiviert viele in der NRW-CDU, dass es nach der schwierigen Bundestagswahl im Herbst in kurzer Zeit gelungen ist, dass wir im Land wieder durchweg als stärkste Kraft gesehen werden. Aber auch hier gilt: Umfragen sind noch keine Wahlsiege.

Wie viel Rückenwind bringt der neue CDU-Chef Friedrich Merz?

Friedrich Merz hatte einen guten Start als Parteivorsitzender. Er wird auch im Wahlkampf bei uns eine Rolle spielen.

Einen Merz-Effekt hat es bisher nicht gegeben, zumindest keinen positiven.

Landtagswahlen werden mit landespolitischen Themen entschieden. Trotzdem hilft es, wenn es aus dem Bund Unterstützung gibt. Daher wird Friedrich Merz in Nordrhein-Westfalen einige Auftritte haben.

Hilft Ihr Amtsvorgänger Armin Laschet?

Wir tauschen uns regelmäßig aus. Ich schätze seinen Rat.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.