Die Grünen haben die Union überrundet – bleibt das eine Momentaufnahme oder steht es für einen nachhaltigen Wandel in der Republik?

In der Union wächst die Unruhe: Seit zehn Tagen gibt es kein Meinungsforschungsinstitut mehr, dass die Kanzlerpartei noch vor den Grünen sieht. Bestenfalls gibt es für die CDU/CSU wie bei den Demoskopen von Insa ein Patt von 24 zu 24 Prozent, schlechtestenfalls sind die Grünen mit 28 zu 23 Prozent enteilt. Die Stimmung in der Repu­blik hat sich nachhaltig verschoben – von der vermeintlich letzten Volkspartei zu der vermeintlich neuen grünen Volkspartei.

Gleich mehrere Faktoren haben den Stimmungswandel befördert: Die Grünen haben es geschafft, den Kampf um die Spitzenkandidatur so professionell wie sympathisch zu lösen. Robert Habeck hat verzichtet und trotzdem aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht: Er sprach danach von der „schmerzhaftesten Erfahrung seiner Laufbahn“. Zugleich – auch befördert durch eine sehr freundliche mediale Begleitung – nutzte Annalena Baerbock das Überraschungsmoment. „The trend is your friend“, gilt eben nicht nur an der Börse.

Brutalität beim Zweikampf Laschet gegen Söder

Zum gleichen Zeitpunkt hat die Union gezeigt, wie man einen Spitzenmann besser nicht kürt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat gekämpft, was nicht zu beanstanden ist. Aber er hat zu spät erkannt, dass er diesen Kampf nicht gewinnen wird. Und so gingen aus dem Ringen der „Sieger“ Armin Laschet und der „Besiegte“ Markus Söder beide angeschlagen heraus.

Zum einen wendet sich gerade das konservative Publikum entsetzt ab, zum anderen zeigt die Dauer und die Brutalität des Zweikampfs, dass selbst die eigenen Truppen nicht hinter Laschet stehen. Da darf es nicht verwundern, dass bei der Umfrage zu einer imaginären Direktwahl Laschet mit 15 Prozent hinter Baerbock (26 Prozent) und sogar Olaf Scholz (16 Prozent) landet.

Panik in der Union

Doch auch Söder ging als Verlierer aus dem Machtkampf: Weder wird er Kanzlerkandidat, noch goutieren die Bayern seine Avancen in Richtung Berlin. In einer aktuellen Umfrage liegen die Christsozialen in ihrem Stammland nur noch bei katastrophalen 36 Prozent. Die CSU hat die Niederlage noch nicht verdaut – und schießt ständig böse Spitzen in Richtung CDU und Laschet.

Da wundert es nicht, dass sich in der Union Panik breitmacht. Stand jetzt muss die Union fürchten, dass sie rund jeden fünften ihrer derzeit 246 Sitze im Bundestag verliert. Viele Abgeordnete fürchten um Mandat, Job und Zukunft. Angesichts der schlechten Umfrage­werte sagte CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus in einer internen Sitzung: „Grüne Abgeordnete sagen zu mir: Wir schauen uns schon mal die Möbel an fürs Kanzleramt.“

Angela Merkel hat die Partei inhaltlich entkernt

Es wäre allerdings falsch, diese Krise allein dem Spitzenkandidaten in die Schuhe zu schieben. Das Problem der Union liegt tiefer und reicht länger zurück: Jetzt rächt sich, dass Kanzlerin Angela Merkel in den vergangenen Jahren die Partei inhaltlich entkernt und personell hat ausbluten lassen.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich – vielleicht mit Ausnahme von Jens Spahn – kein Talent nach oben gearbeitet. Gleich zweimal scheiterte Friedrich Merz knapp im Kampf um den Parteivorsitz – ihn hatte Merkel 2002 als Fraktionschef entmachtet. Und der wirkmächtigste Unionspolitiker ist noch immer Wolfgang Schäuble, Parteichef von 1998 bis 2000 und von Merkel beerbt.

Merkel-Union räumte ihre Grundsätze

Während das Personaltableau sich zu wenig verändert hat, hat sich die Programmatik radikal gewandelt: Die Merkel-Union hat in den vergangen Jahren große Teile ihrer Grundsätze geräumt und sich damit fast überflüssig gemacht. Ja, es hat die eigene Programmatik desavouiert – wenn schon die Union für Mindestlohn, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Homoehe, offene Grenzen, die Vergemeinschaftung der Schulden oder die Rente mit 63 ist, was passiert dann mit der eigenen Verortung und vor allem mit diesen Themen?

Die Union hat nicht nur die Standpunkte für sich entsorgt, sondern für die Gesellschaft gleich mit. Was eben noch mehrheitsfähig war, vertraten plötzlich nur noch radikale Ewiggestrige. Kann man deutlicher machen, dass eine Partei bis dato auf dem falschen Kurs unterwegs war?

Mehrheitsfähige Positionen in Europa

Natürlich geht es um den Zeitgeist, an den sich die Union geschmiegt hat. Aber es ist ein sehr deutscher Zeitgeist. Und dabei muss man sicher nicht ins ultrakonservative Ungarn oder Polen schauen.

Der liberale Emmanuel Macron kämpft in Frankreich gegen das Gendern der Sprache und für Atomkraft zur Klimarettung; die schwedischen Sozialdemokraten haben die Wehrpflicht wieder eingeführt, die dänischen Sozialdemokraten fahren einen harschen Kurs der Leitkultur gegen Migration, die Bürgerlichen in den Niederlanden oder die ÖVP in Österreich wehren sich weiter gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden – übrigens alle mit der Unterstützung der Wähler. Das heißt nicht, dass sie richtig ist. Es heißt aber, dass diese Positionen in Europa durchaus mehrheitsfähig sind.

Union übernimmt grüne Position zu Klimaschutz

Wofür aber steht die vermeintlich konservative Union? In Folge der Flüchtlingskrise hat gerade die CSU kurzzeitig versucht, am rechten Rand mit der AfD um Stimmen zu werben – in der Erkenntnis, damit nur das Original zu stärken, hat man davon abgelassen. In Fragen des Klimaschutzes übernimmt die Union dessen ungeachtet nun grüne Positionen. In der Vergangenheit hat sich die CDU geradezu opportunistisch einem linken Mainstream in Öffentlichkeit und Medien gefallen wollen. Das war kurzfristig machtpolitisch klug, hat aber mittelfristig den Konservativen das Fundament entzogen.

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Nach Merkel, die als Radikalreformerin anfing und als grüne Sozialdemokratin in den Ruhestand geht, dämmert vielen Unionisten, dass sie nicht nur das Kanzleramt verlieren könnten, sondern längst jede Diskurs­hoheit verloren haben. Als Schlussakkord dieser Selbstaufgabe sehen manche die jüngst verabschiedete „Bundesstiftung Gleichstellung“, die nun mit vielen Millionen die Gesellschaft weiter gestalten soll: Früher stand die Union für das Leistungsprinzip und Chancengleichheit, heute erkennt sie kaum noch den Unterschied zwischen Gleichstellung und Chancengleichheit.

Kaum Ausgewogenheit in öffentlich-rechtlichen Medien

Aber solche Positionen sind in der Öffentlichkeit kaum noch zu vertreten, ohne dass ein Shitstorm losbricht oder es empörte Kommentare setzt. Es gibt kluge CDU-Vertreter, die sich längst in einem „Kulturkampf“ wähnen. Und ahnen, dass dieser zumindest derzeit verloren ist: In den öffentlich-rechtlichen Medien ist von der Ausgewogenheit oft nur noch wenig zu spüren, das Programm hat eine grüne Schlagseite.

Als sich vor wenigen Tagen ein Nutzer erdreistete, die Qualifikation von Annalena Baerbock infrage zu stellen, erwiderte das ARD-Twitterteam: „Wie kommen Sie dazu, dass die Frau nicht gebildet ist? Schauen Sie sich die Ausbildung der Frau an. Wenn das keine Bildung ist…“

Nähe zur AFD toxisch

Es öffnet die Augen, einmal zu verfolgen, was Journalisten so twittern. Der Kabarettist Matthias Deutschmann schrieb jüngst wegen des Streits um die Künstlervideos von #allesdichtmachen: „Sollen wir in diesem Land bei der Meinungsfreiheit nur noch zwischen zwei Geschmacksrichtungen wählen dürfen: ARD oder AfD?“

Manche in der Union dachten lange, die AfD verhindere in Zukunft jede Mehrheit ohne die CDU. Was sie dabei übersahen – die AfD ist oft der Todeshauch auch für Unionspositionen. Sagen die Ewiggestrigen „hü“, rufen die Unionschristen sofort „hott“! Jede programmatische Nähe ist toxisch und kann gegen die Union verwendet werden – so treibt die AfD die Union nach links und desavouiert viele ihrer Themen.

Abgrenzung zu Grünen könnte Laschet retten

Die Ausgangslage ist diffizil: Laschet muss in den kommenden Wochen nicht nur ein eigenes Profil entwickeln, sondern auch eins für seine Partei. Einfach wird das nicht, eingezwängt zwischen verhassten Alternativen für Deutschland und hofierten Alternativen. Und doch könnten ihn am Ende gerade die Grünen retten: Denn eine Abgrenzung gegen die Ökopartei könnte leichter fallen als gegen Olaf Scholz: Den Grünen fehlt noch der nötige Unterbau, um Volkspartei zu sein.

Hinter ihrer bürgerlichen Spitze stehen mitunter noch Linkssektierer oder Radikale, die im Wahlkampf ihrer Spitzenkandidatin das Leben schwer machen dürften. Derzeit tobt ein bizarrer Streit, ob das Programm „Deutschland. Alles ist drin“, heißen darf. „Das Wort Deutschland kann doch sehr negativ assoziiert werden“, warnen die Kritiker. Wollen die Grünen die Wahl in Deutschland gewinnen? Oder in Taka-Tuka-Land?

Wahlprogramm: „Sieht schön aus, ist aber ungenießbar“

In der Kurzanalyse des Wahlprogramms haben die Wahlstrategen der Union einiges gefunden, was sie in den kommenden Wochen zelebrieren wollen: Da haben die Unionisten das „Fliegenpilz-Phänomen“ ausgemacht: „Sieht schön aus, ist aber ungenießbar“ -- aufgrund der milliardenschweren Kosten. Zwar sind die 80er-Jahre lange her, aber ob sich eine Mehrheit für Tempolimit, Spritpreissteigerungen, Steuererhöhungen, höhere Hartz-4-Sätze und offene Grenzen für gering Qualifizierte erwärmen kann, steht dahin.

Zudem will die CDU den Grünen erschweren, sich als Opposition zu profilieren – was angesichts der überschaubaren Performance der Großen Koalition ein Selbstgänger wäre. In dem CDU-Papier heißt es: „Die Grünen benennen in ihrem Programm eherne Ziele. Die Lösungen hätten sie in 11 Bundesländern längst anpacken können, in denen sie mitregieren.“

Unmut über Pandemiepolitik nimmt ab

Von großer Bedeutung dürfte auch die Stimmungslage sein. Derzeit nimmt der Unmut über die Pandemiepolitik ab, der den Grünen genutzt hatte. Plötzlich ist reichlich Impfstoff da, ein Ende der Beschränkungen in Sicht. Sollten im Sommer alle Erwachsenen geimpft sein, könnte sich das „Impfdesaster“ sogar in eine „Impfeuphorie“ wandeln – zugunsten der Union.

Gegen die Grünen – tendenziell in Umfragen stärker als an den Wahlurnen – kann die CDU zudem besser mobilisieren. Wie man der Ökopartei den Schneid abkaufen kann, hat Peter Tschentscher im Bürgerschaftswahlkampf 2020 gezeigt. Mit dem Slogan „Die ganze Stadt im Blick“ traf er die grüne Achillesferse, oftmals doch nur eine Partei der urbanen Elite zu sein.

Hamburger wollten keine Grüne im Spitzenamt sehen

Standen SPD und Grüne zwei Monate vor der Wahl in Hamburg in Umfragen bei 29 Prozent, obsiegte Tschentscher am Ende mit 39 zu 24. Er gewann die strategischen Wähler, die eben keine Grüne im Spitzenamt sehen wollten. Wenn dieser Trick schon in Hamburg funktioniert, um wie viel leichter wäre er dann in der konservativeren Bundesrepublik? Laschet, der Unterschätzte, bringt eine Stärke mit: Er bezieht auch innerparteiliche Gegner ein, wie er gerade an seinem vorherigen Widersacher Friedrich Merz gezeigt hat: Anders als Merkel, wird er beide Flügel der Union einbinden und damit tendenziell mehr Wähler überzeugen können.

Weil er zugleich in der Mitte steht, lässt er sich im Wahlkampf schwerer in die rechte Ecke drücken. Am Ende könnte Laschet dadurch Momentum entwickeln. Wer bei 24 Prozent steht, hat Luft nach oben: Gewinnt er in den kommenden Wochen kontinuierlich mal ein, mal zwei Prozente hinzu, dreht sich der Wind. Laschet hat die Wahl sicher noch nicht gewonnen – aber abschreiben sollte man ihn nicht.