Berlin. Die Politik sollte sich im Superwahljahr davor hüten, Ost und West gegeneinander auszuspielen. Das würde die Gräben weiter vertiefen.

Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Dass seitdem „zusammengewachsen ist, was zusammengehört“, wie Willy Brandt am 10. November 1989 in Interviews formulierte (in seiner Ansprache vor dem Schöneberger Rathaus fehlte der Satz und wurde von ihm nachträglich in sein Manuskript eingefügt), davon kann leider noch lange nicht die Rede sein.

Kanzlerin Angela Merkel warnte am Mittwoch bei ihrem Treffen mit den Ministerpräsidenten, dass die Unterschiede zwischen Ost und West sogar wieder wachsen könnten. Denn nach 2021 fließt viel weniger EU-Geld aus Brüssel in den Osten.

Vielleicht noch schwerer wiegt die emotionale Distanz zwischen Ost und West. Viele Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Statt „blühender Landschaften“ sahen sie nach dem Fall der Mauer häufig das Sozialamt von innen. Zu Hunderttausenden wurden Biografien entwertet. Von Westdeutschen bekamen und bekommen sie zu oft zu hören: „Hört auf zu jammern, bei uns im Westen ist vieles auch schlecht.“

Deutschland wird 30 Jahre nach dem Mauerfalls von Verteilungskämpfen geprägt

Die Soziologin Naika Foroutan hat erforscht, dass 36,5 Prozent der Westdeutschen denken, dass Ostdeutsche noch nicht im „heutigen Deutschland“ angekommen seien. Dahinter steht eine Denke, wer zu spät gekommen ist (also erst 1989/90), den bestraft das Leben, der soll froh sein, was er seitdem bekommen hat.

Deutschland wird pünktlich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls von harten Verteilungskämpfen geprägt. Seit der Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge im Jahr 2015 hat sich die Lage noch verschärft. Je näher nun die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen rücken, desto reicher bestücken die Parteien ihre Auslagen auf den ostdeutschen Wahlkampfbasaren in Potsdam, Dresden oder Erfurt.

SPD, CDU, Grüne und Linke liefern sich einen Überbietungswettbewerb, was getan werden müsste, damit der Osten wächst und gedeiht und die AfD vielleicht wieder verschwindet. Viele Ostdeutsche dürften sich verwundert die Augen reiben und fragen: Wo wart ihr die letzten 30 Jahre?

Der Osten braucht auch Aushängeschilder.

Die SPD schlägt in ihrem „Zukunftsprogramm Ost“ eine Priorität für den Osten bei der Ansiedlung von Forschungseinrichtungen oder Bundesbehörden vor. Merkel unterstützt das. Die Einsicht kommt sehr spät. Das Repräsentationsdefizit ostdeutscher Eliten in Gerichten, Bundesbehörden und Unternehmen ist nicht vom Himmel gefallen.

Kein Dax-Konzern hat seinen Sitz im Osten. Von den rund 190 Dax-Vorstandsmitgliedern waren 2018 nur sechs in Ostdeutschland geboren. Nicht ein einziger Richter am Bundesverfassungsgericht kommt aus dem Osten. Auf diesen Posten muss dringend etwas passieren. Der Osten braucht auch Aushängeschilder. Das kann ein Stück weit Stolz und Identität schaffen.

„Osten First“ würde die Gräben vertiefen

Völlig falsch aber wäre es, den Osten etwa beim Aufbau des 5G-Netzes oder beim Schienennahverkehr gegenüber dem Westen vorrangig zu behandeln. Schnelles Internet ist ein „Must-have“ für jeden Bürger – egal, ob er in der Lausitz hinter der Milchkanne oder im Loft am Kurfürstendamm wohnt.

„Osten First“ würde die gefühlten Gräben zwischen West- und Ostdeutschen vertiefen. Gerade hat die Bertelsmann Stiftung in einer Studie festgestellt, dass die Armut im Westen in allen 13 Ruhrgebietskommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern zugenommen hat. In ostdeutschen Großstädten hätten sich die Lebensverhältnisse dagegen weiter verbessert.

Deshalb die Bitte an alle Wahlkämpfer: Verteilt Steuergeld für den Strukturwandel nicht mit der Gießkanne, sondern helft jenen Regionen, die es bitter nötig haben – in Ost und West.