Berlin. Im Prozess um den Chemnitzer Messerangriff hat der erste Zeuge ausgesagt. Er kann den Angeklagten nicht als Täter identifizieren.

Ein junger Mann stirbt, wohl erstochen in einem Streit. Sein Tod löst Krawalle, Demonstrationen und eine handfeste Regierungskrise aus. Sieben Monate nach dem Tod von Daniel H. in Chemnitz hat am Montag in Dresden die juristische Aufarbeitung einer folgenschweren Nacht begonnen. Ein mutmaßlicher Täter steht vor Gericht, ein weiterer wird gesucht. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was ist passiert?

In dieser Nacht Ende August 2018 ist Daniel H. mit Freunden zum Skatspielen und Biertrinken verabredet. In den frühen Morgenstunden, kurz nach drei Uhr, trifft der Deutsch-Kubaner H. in der Chemnitzer Innenstadt mutmaßlich auf den irakischen Flüchtling Farhad A. Dieser soll Daniel H. angesprochen haben. Worum es genau ging, ist unklar. Es kommt zu einem Wortgefecht, Daniel H. weist den jungen Flüchtling von sich. So berichten es Zeugen.

Farhad A. verschwindet und kommt kurz nach dem Streit mit einem Bekannten zurück – es ist der jetzt angeklagte Syrer Alaa S. Laut Staatsanwaltschaft greifen die beiden Daniel H. an, von vorne und von hinten. Und: Sie sollen ein Messer gezogen und zugestochen haben. Daniel H. stirbt noch in der Nacht. Unklar ist, wer von den Beschuldigten zugestochen hat.

Welche Nachwirkungen hat der Fall?

Schon wenige Stunden nach der Tat vermelden erste Nachrichtenseiten den Tod von Daniel H. Und rechte Gruppen nutzen die Nachricht, dass Flüchtlinge einen Deutschen getötet haben sollen, zur Mobilisierung. Laut Medienberichten an der Spitze: die Chemnitzer Hooligangruppe „Kaotic“, aber auch die mittlerweile vom Verfassungsschutz als rechtsextreme Splitterpartei eingestufte „Pro Chemnitz“.

In den folgenden Tagen kommt es in Chemnitz zu mehreren Demonstrationen, die eskalieren. Zahlreiche organisierte Neonazis mischen sich unter den Protest, es kommt zu gewalttätigen Ausschreitungen.

Für die rechte Szene ein Durchbruch: Innerhalb von Stunden mobilisiert sie bundesweit Hunderte Anhänger – und steht Seite an Seite mit Bürgern aus Chemnitz. Die AfD nutzt die Tat ebenfalls für einen Protestmarsch. In mehreren Verfahren verurteilen Gerichte Teilnehmer der Demonstrationen, weil sie den Hitlergruß zeigten oder verbotene Kennzeichen trugen.

Auch Übergriffe auf Flüchtlinge sind dokumentiert. Ein Video, in dem Männer offenbar auf einen jungen Flüchtling losgehen, führt zur hitzigen Debatte darüber, ob es in Chemnitz „Hetzjagden“ gegen Ausländer gegeben habe.

Eine Stimme fällt auf: Der damalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen spricht von „gezielten Falschinformationen“, die über mutmaßliche Angriffe auf Ausländer verbreitet würden.

Seine Äußerungen werden zum Anlass für einen monatelangen Koalitionsstreit über die Personalie Maaßen. Im November wird er in den Ruhestand versetzt.

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Was ist vom Prozess zu erwarten?

August 2018: Proteste in Chemnitz nach den tödlichen Messerstichen.
August 2018: Proteste in Chemnitz nach den tödlichen Messerstichen. © dpa | Andreas Seidel

Vor Gericht in Dresden steht nur Alaa S., ein 23-jähriger Syrer. Ihm werden Totschlag, versuchter Totschlag und gefährliche Körperverletzung zur Last gelegt. S. bestreitet die Vorwürfe. Der erste Zeuge konnte den Angeklagten am Montag auf Fotos nicht als Täter identifizieren.

Die Verteidigung macht schon am Montag klar, dass sie die Beweislage nicht annähernd für ausreichend hält, fordert die Einstellung des Verfahrens und die Aufhebung des Haftbefehls. Tatzeit, Tatort und Motiv seien bisher unklar.

Zuvor hatte Verteidigerin Ricarda Lang einen Fragenkatalog vorgelegt, in dem sie wissen wollte, ob die Dresdener Richter – die Verhandlung findet aus Sicherheitsgründen nicht in Chemnitz statt – Mitglieder oder Unterstützer der AfD oder der islamfeindlichen „Pegida“-Bewegung sind, ob sie an Demonstrationen infolge der Messerattacke teilnahmen und wie sie zu Flüchtlingen insgesamt stehen.

Farhad A. ist noch auf frei und wird international gesucht.

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Wie ist die Stimmung in Chemnitz?

„Die Justiz ist unabhängig. Und sie ist jetzt genau der Ort, wo Strafverfolgung stattfinden muss“, sagt die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) unserer Redaktion. „Dort und nicht auf der Straße.“ Doch die Möglichkeit, dass sich genau dort Zorn entladen könnte, falls Alaa S. nicht verurteilt werden sollte, steht im Raum. Diese Sorge hat auch Ali Tulasoglu.

Als nach H.s Tod innerhalb weniger Wochen persische, jüdische und türkische Restaurants angegriffen wurden, traf es auch ihn: Unbekannte brachen in sein Restaurant ein und legten Feuer, das Haus brannte aus. „Wenn es in diesem Prozess keine Verurteilung gibt, kann ich mir vorstellen, dass es wieder Krawalle gibt“, sagt Tulasoglu heute.

„Gut möglich, dass es dann auch wieder ausländische Geschäfte trifft.“ Schön sei es seitdem nicht mehr in Chemnitz, sagt Tulasoglu, „und sicher ist es auch nicht mehr.“ Trotzdem will er bleiben. „Aber wenn es so weitergeht, dann müssen wir vielleicht in eine andere Stadt in Sachsen gehen.“

Wie geht es jetzt weiter?

Herauszufinden, was wirklich geschah, ist keine einfache Aufgabe. Das Gericht plant mit einem langen Prozess bis Ende Oktober.