Berlin. Die Herkunft der Tatverdächtigen von Chemnitz bringt das Bamf in Verlegenheit. Das Amt verpasste Fristen und informierte zu spät.

Während die Polizei in Chemnitz einen dritten Tatverdächtigen sucht, bringen die Akten der Asylbewerber Yousif A. und Alaa S. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Verlegenheit. Die Herkunft der Tatverdächtigen, die einen

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, ist ungeklärt: Yousif A. legte gefälschte Dokumente vor, Alaa S. wurde ungeprüft als Flüchtling anerkannt. Am Dienstag veröffentlichte das Innenministerium eine Darstellung, die sich wie eine Dokumentation des Versagens liest – und wie eine Bloßstellung der Nürnberger Behörde.

Die Papiere von Yousif A. erweisen sich als Fälschung

Am Vorabend war Bamf-Präsident Hans-Eckard Sommer, keine 100 Tage im Amt, zum Rapport in Berlin. Innenminister Horst Seehofer (CSU) rügt, „die Kommunikation zwischen der zuständigen Ausländerbehörde und dem Bamf hätte hier besser sein müssen“.

Yousif A. beantragt im November 2015 Asyl. Als die Behörden seine Fingerabdrücke routinemäßig im EU-weiten Identifizierungssystem Eurodac abgleichen, landen sie einen Treffer: Der Mann hat in Bulgarien Asyl beantragt. Er hätte dorthin überstellt werden können. Das sei „grundsätzlich möglich gewesen“, so das Ministerium. Die örtliche Ausländerbehörde erfährt davon am 1. Juni 2016 – da waren sämtliche Fristen für die Überstellung nach dem Dubliner Abkommen verstrichen.

Man muss sich die Zustände im Spätherbst 2015 in Erinnerung rufen. Monat für Monat kommen Tausende Flüchtlinge an – und die für Asylverfahren zuständigen Behörden mit ihrer Arbeit kaum nach. Migranten müssen Monate warten, um einen Antrag zu stellen. Erst am 7. November 2017 findet im Fall von Youssif A. eine förmliche Anhörung statt. Er legt einen irakischen Ausweis, einen Reisepass und eine Staatsangehörigkeitsurkunde vor.

Seehofer: „Solche Fehler in Zukunft verhindern“

Es dauert weitere sieben Monate, bis die Dokumente auf ihre Echtheit überprüft sind. Am 15. Juni 2018 steht dann fest, „dass es sich bei allen vorgelegten Dokumenten um Totalfälschungen handelte“. Seither versuchen Bamf und Polizei, die wahre Identität des Migranten zu ermitteln. Sein Asylantrag ist inzwischen abgelehnt worden. Die Ablehnung ist bis heute nicht rechtskräftig. Abschieben kann man den Mann auch nicht. Wohin auch? Denn dazu bräuchte man zweifelsfrei ein Herkunftsland.

Chemnitz: Chronik eines Ausnahmezustands

In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben.
In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben. © dpa | Jan Woitas
Journalisten werden attackiert.
Journalisten werden attackiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz.
Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte.
Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt.
Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt. © dpa | Jan Woitas
Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht.
Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort.
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort. © dpa | Sebastian Kahnert
Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen.
Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen. © dpa | ---
Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber.
Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber. © dpa | Ralf Hirschberger
Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil.
Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil. © dpa | Ralf Hirschberger
Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren.
Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren. © dpa | Sebastian Kahnert
Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf.
Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus.
Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus. © dpa | Sebastian Kahnert
„Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ © dpa | Sebastian Kahnert
Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert.
Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert. © dpa | Sebastian Kahnert
Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln.
Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln. © dpa | Boris Roessler
„Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert.
„Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf.
Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf. © REUTERS | Matthias Rietschel
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage.
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage. © dpa | Kay Nietfeld
Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde.
Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde. © dpa | Hendrik Schmidt
Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin.
Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin. © dpa | Hendrik Schmidt
Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen.
Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen. © Getty Images | Michele Tantussi
Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen.
Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen. © dpa | Kay Nietfeld
Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst.
Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst. © picture alliance/dpa | dpa Picture-Alliance / Bernd von Jutrczenka
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Seehofer ist ungehalten. Der mutmaßliche Tatverdächtige hätte nach Bulgarien zurückgeführt werden können – wenn die Kommunikation zwischen Bamf und der örtlichen Ausländerbehörde geklappt hätte. „Solche Verzögerungen und Fehler müssen wir in der Zukunft verhindern“, sagt der Innenminister.

Und: „Die Untersuchung der vorgelegten Dokumente hat zu lange gedauert.“ Dem Bamf fehlen hochspezialisierte Dokumentenprüfer. Die Pannenstory bestärkt Seehofer in seinem Vorhaben, Ankerzentren aufzubauen. Ihnen liegt die Idee zugrunde, alle Behörden räumlich zusammenzubringen, damit sie möglichst eng kooperieren, schnell und effektiv die Fälle abarbeiten, Rücküberstellungen in Ersteinreisestaaten veranlassen.

Angaben „beruhen auf Selbstauskunft“

Der zweite Verdächtige Alaa S. wird gar nicht erst angehört. Er stellt im Mai 2015 einen Asylantrag. Als im Sommer der Flüchtlingsstrom aus Syrien ansteigt und der Kontrollverlust droht, werden die Verfahren von Syrern eine Zeitlang nur schriftlich bearbeitet.

„Wir schaffen das“, hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am 30. August 2015 als Ziel vorgegeben. Schnell und unbürokratisch will man sein. Alaa S. wird als Flüchtling anerkannt, ohne dass seine Angaben zur Identität überprüft werden. Lakonisch heißt es in der Ministeriumserklärung, seine Angaben „beruhen auf einer Selbstauskunft“. Inzwischen rollt das Bamf seinen Fall wieder auf. Bis heute ist unklar, ob seine Angaben stimmen. Der dritte Verdächtige heißt Farhad R., ist 22 Jahre alt, dieselbe Altersklasse wie die anderen, gilt als gefährlich und soll aus dem Irak stammen. Was zu beweisen wäre.

Chemnitz: Rund 65.000 Gäste beim Konzert gegen Rechts

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