Freiberg/Cottbus. Städte wie Freiberg in Sachsen und Cottbus in Brandenburg stoppen den Zuzug von Flüchtlingen. Warum tun sie das? Ein Besuch vor Ort.

Für Sven Krüger war es nur eine Frage der Zeit, bis Schluss sein würde. Bis Ungerechtigkeit und Ungleichheit nur noch in einen Ausweg kannten: ein Ende des Zuzugs von Flüchtlingen in seine Stadt. Zumindest für eine Zeit.

Krüger ist Oberbürgermeister der alten Bergbaustadt Freiberg in Mittelsachsen. Er sitzt in seinem Büro im ersten Stock des Rathauses, vor ihm drei Aktenordner, vollgestopft mit Berichten. Der Politiker Krüger argumentiert gerne mit Zahlen.

Fast 24.000 Asylbewerber lebten Ende 2017 in Sachsen. „Es kann nicht sein, dass von 53 Kommunen nur sechs Flüchtlinge aufnehmen“, sagt Krüger. Die restlichen 47 Orte würden sich dem Thema gar nicht stellen. Also hat Krüger eine Entscheidung getroffen, die ihm jetzt sehr oft Besuche von Journalisten eingebracht hat.

Freiberg soll nicht fast alleine dastehen

Für vier Jahre will Freiberg die Zugbrücke nach oben ziehen. Dafür nutzen sie im Rathaus einen neuen Erlass der Landesregierung. Ab dem 1. April erlaubt das sächsische Innenministerium den Landkreisen eine „negative Wohnsitzauflage“ zu erteilen. Heißt: Per Beschuss der Verwaltung dürfen Flüchtlinge nicht mehr an Orten wie Freiberg wohnen.

Die Stadt setzt eine Obergrenze auf eigene Faust. Freiberg ist damit die erste Kommune in Sachsen, die diesen Schritt geht. Auch Städte wie Salzgitter und Delmenhorst in Niedersachsen oder Pirmasens in Rheinland-Pfalz gehen den Weg. Aus Sicht des Innenministeriums soll die Maßnahme dazu führen, dass sich auch andere Kommunen bei der Unterbringung und Versorgung von Syrern, Irakern oder Afghanen stärker einsetzen. Und dass Städte wie Freiberg nicht fast alleine dastehen.

Der Bürgermeister spricht nicht von Krise

Sven Krüger, 44 Jahre, ist fast die Hälfte seines Lebens SPD-Mitglied. Er stammt aus der Region, hat lange bei der Sparkasse gearbeitet und zog vor einigen Jahren ins Rathaus – ein Prachtstück der Renaissance am Marktplatz. Die Bilanz seiner Stadt sieht ordentlich aus: mehr als 800 gewerbesteuerpflichtige Unternehmen, viele Jobs, eine internationale Hochschule, 42.000 Einwohner, Tendenz steigend, keine demografischen Sorgen also.

Im Sommer 2015 wurde er zum Oberbürgermeister gewählt. Statt eines gemäßigten Einstiegs ins Amt erwartete ihn ein Ausnahmezustand. Ursprünglich war im Landkreis eine gleichmäßige Verteilung unter allen Kommunen vorgesehen, in einigen Orten gab es jedoch keine passenden Quartiere, Ausländerämter waren weit weg, und der Bus fuhr nur selten.

Als 2015 jeden Tag mehrere Tausend Menschen über die deutschen Grenze kamen, saß Krüger mit den anderen Politikern in Freiberg zusammen. „Wir haben uns gefragt, was wir machen sollen. Und wie“, sagt er heute. Krüger spricht stets von der „Flüchtlingsherausforderung“. Nie von Krise. Oder Chaos.

Alles konzentriert sich auf wenige Kommunen

Aber in letzter Zeit ist diese Herausforderung so stark gewachsen, dass sie auch im Rathaus an ihre Grenzen stießen. Noch so eine Zahl aus Krügers Aktenordner: Als er 2015 Bürgermeister wurde, lebten etwa 200 Asylbewerber in der Stadt. In nur wenigen Monaten stieg die Zahl auf 1700. Freiberg nahm mehr als doppelt so viele Flüchtlinge auf wie vereinbart.

Ein Verein rief einen mehrsprachigen Kindergarten ins Leben, Nachbarn unterrichteten Deutsch, in den Unterkünften wurden Spielzimmer eingerichtet, um die Zeit zu überbrücken, bis ein Kitaplatz frei wird. Das sprach sich rum in Sachsen. Immer mehr Menschen aus Syrien, Irak oder Afghanistan kamen in die Stadt. Niemand schrieb ihnen vor, wo sie zu leben hatten. Auf einmal konzentrierte sich alles auf wenige Kommunen.

Heute liegt der Ausländeranteil immer noch unter fünf Prozent. „Asyl und Integration“ heißt die Kostenstelle im Stadthaushalt, über die Krüger die Investitionen für die bei ihnen lebenden Flüchtlinge regelt. Für das Jahr 2016 hat der Bankbetriebswirt exakt 736.200 Euro addiert. „Es scheitert nicht am Wollen, es scheitert auch nicht am Geld, es scheitert ganz einfach an rein praktischen Dingen“, sagt Krüger.

Allem voran fehle es an Plätzen in Kitas und Schulen. Neue Gebäude könne die Stadt nicht bauen, weil die Firmen schon volle Auftragsbücher hätten, sagt Krüger. Auch Lehrer für Sprachkurse fehlten.

Ein zweieinhalb Seiten langer Brief an die Kanzlerin

Krüger ist nicht glücklich, dass Freiberg jetzt einen Zuzugsstopp verhängt hat. Und es ist ja auch nicht so, als hätte er nicht früh gewarnt. Vor einem Jahr schon schrieb er einen Brief an Kanzlerin Angela Merkel, zweieinhalb Seiten. Krüger hatte noch das Versprechen der Regierung im Ohr: Kein Ort solle auf den Kosten für Integration sitzen bleiben. Mit dem Brief wollte Krüger vor allem eines: eine Debatte über die Belastung der Kommunen anstoßen. Er bekam keine Antwort.

„Wir haben bestimmt nicht alles richtig gemacht, aber wir haben nicht allzu viel falsch gemacht“, sagt Krüger. Bilder von Hass und Fremdenfeindlichkeit wie in Bautzen, Freital und Heidenau hat es in seiner Stadt nie gegeben. Orte, an denen sich nach 2015 Anschläge auf Asylbewerberheime häuften. „Solche Bilder zu verhindern, ist uns gelungen“, sagt Krüger.

„Erschießen, die Sau“

Nicht alle Städte bekommen das hin. An diesem Märztag pfeift eisiger Wind durch die Straßen von Cottbus, die Feuerwehr ist damit beschäftigt, die Demonstranten vor herabfallenden Eiszapfen zu schützen. „Abschiebe“-Rufe wechseln sich mit der „Merkel muss weg“-Parole ab, zwischendrin ruft ein Demonstrant „Erschießen, die Sau“. Auch er meint Merkel.

Etwa 2500 Menschen drängen sich auf den Altmarkt. Der fremdenfeindliche Verein „Zukunft Heimat“ macht sich Cottbus einmal mehr zu seiner Bühne. Seit Januar vergangenen Jahres werden hier immer wieder Demonstrationen gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung angemeldet. Auch diesmal sind Frauen und Männer in bunten Jacken zu sehen. „Einfache Bürger“, wie sie sagen. Aber auch viel „Thor Steinar“, eine unter Rechtsextremen bevorzugte Modemarke. In den Redebeiträgen geht es um „Übervölkerung“, die „Abschaffung des deutschen Volkes“, die „Zerstörung unserer Heimat“. Pegida-Floskeln. Danach werden deutsche Soldatenlieder angestimmt.

Wie Freiberg hat auch die südbrandenburgische Stadt Cottbus bis jetzt Flüchtlinge aufgenommen. Der Anteil an Ausländern sei in den vergangenen beiden Jahren von 4,5 auf 8,5 Prozent gestiegen, sagt Jan Gloßmann, Sprecher der Stadtverwaltung. Damit ist jetzt Schluss. Denn auch der Cottbusser Bürgermeister Holger Kelch (CDU) und das brandenburgische Innenministerium haben sich für einen Zuzugsstopp ausgesprochen. Die zentrale Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt teilt Cottbus keine Flüchtlinge mehr zu.

Deutsche attackieren Flüchtlinge und umgekehrt

In Cottbus hatte sich zuletzt einiges aufgestaut: Attacken von Deutschen auf Flüchtlinge und umgekehrt, immer wieder. Am 12. Januar zückte ein 14-jähriger Syrer vor dem Einkaufszentrum in der Innenstadt ein Messer und bedrohte ein Ehepaar. Fünf Tage später soll ein weiterer Flüchtling einem jungen Deutschen mit dem Messer eine Wunde zugefügt haben. Oberbürgermeister Holger Kelch nutzte die Vorfälle, um seinen Hilferuf erneut in Richtung Landespolitik zu senden. Zweimal schon war er damit vorher gescheitert.

Politiker, Journalisten und viele Anwohner in Cottbus reden nur noch über die Angriffe der Syrer. Kaum einer spricht noch von der Attacke auf drei Geflüchtete in der Silvesternacht. Von den Demonstrationen von „Zukunft Heimat“ distanziert sich der Bürgermeister, die Regierenden in Cottbus erklären, sie wollten nicht als rechte Hochburg gelten. Und doch ebbt der Protest gegen Geflüchtete nicht ab. Und kaum einer hält dagegen.

„Wir sind geeint in Sorge“

Auf die Frage, ob die Stadt gespalten sei, sagt Stadtsprecher Gloßmann: „Wir sagen, die Stadt ist ausdrücklich nicht gespalten. Wie sagen unsere Stadt ist geeint in der Sorge, dass gewisse Probleme, gewisse Prozesse drohen, aus dem Ruder zu laufen.“ Auch Gloßmann spricht vom Geld, das der Stadt fehle. Aktuell hätten rund 600 Kinder aus Flüchtlingsfamilien keinen Kita-Platz, laut Stadtverwaltung einer der Hauptgründe für den Zuzugsstopp.

Am Rande der „Zukunft Heimat“-Demonstration steht ein Mann Mitte 50. Immer wieder schüttelt er während der Redebeiträge ansässiger AfD-Politiker den Kopf, „das ist doch widerlich“. Er habe immer in Cottbus gelebt. Nie sei es einfach gewesen für die Stadt, gerade nach der Wende. Der wachsende Hass der Rechten werde aber immer schlimmer. „Das ist nicht mehr meine Stadt.“