Merkel, die vierte – beachtliches Ergebnis oder „Fehlstart“?
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Lesezeit: 8 Minuten
Von Kerstin Münstermann Tim Braune
Berlin. Angela Merkel wurde wieder im ersten Durchgang zur Bundeskanzlerin gewählt. Aber mindestens 35 GroKo-Abgeordnete stimmen nicht für sie.
Es ist nur ein kurzer Moment. Ein Moment zwischen Mutter und Tochter. Angela Merkel ist gerade zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt worden. Die Regierungschefin schaut zur Bundestagstribüne. Dort hebt ihre 89 Jahre alte Mutter Herlind Kasner die Hand, winkt ihrer Tochter zu.
Nach fast sechs Monaten kräftezehrender, quälender Regierungsbildung, bei der das politische Schicksal der 63 Jahre alten Politikerin gleich mehrmals auf der Kippe stand, ist die CDU-Vorsitzende nun wieder Kanzlerin einer großen Koalition aus Union und SPD.
Doch auch der Ausgang der geheimen Kanzlerwahl ist knapp. Merkel bekommt 364 Ja-Stimmen, das sind 35 Mandate weniger, als Union und SPD zusammen haben. Nur neun Stimmen haben Merkel die Mehrheit im ersten Wahlgang gesichert. Trotzdem atmet sie sichtlich erleichtert erst mal durch. „Ich bin einfach froh für das Vertrauen“, wird sie später sagen. Die Unionsfraktion hinter ihr klatscht, steht geschlossen auf. Die SPD-Abgeordneten applaudieren, bleiben aber sitzen.
Merkel und Ex-SPD-Chef Martin Schulz plaudern
Merkel, erstmals zu einer Kanzlerwahl in weißem statt schwarzem Blazer, betritt um kurz vor neun den Plenarsaal, schüttelt viele Hände. Sie begrüßt FDP-Chef Christian Lindner, spricht länger mit ihrem ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel, geht zum Platz von Ex-SPD-Chef Martin Schulz.
Und dreht sich oft zur Tribüne um. Dass ihre vierte Wahl zur Kanzlerin auch für die langjährige Regierungschefin etwas Besonderes ist, zeigen ihre Gäste. Ehemann Joachim Sauer sitzt zum ersten Mal bei einer ihrer Kanzlerinnen-Wahlen auf der Ehrentribüne – den drei früheren war er fern geblieben. Der 68-Jährige hat auch seinen Sohn Daniel aus erster Ehe mitgebracht.
„Gegenstimmen gehören zur Demokratie dazu“
Nach der knappen Abstimmung nimmt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Deutungshoheit in der Bundestagslobby als Erste in die Hand: „Unterm Strich zählt das Ergebnis.“ Es sei müßig, über die Gegenstimmen zu spekulieren. Die Interpretationen sind jedoch naturgemäß je nach Partei sehr unterschiedlich. Von „Fehlstart und Hypothek“ bis hin zu „reibungslosem Start und beachtlichem Ergebnis“ ist auf den Fluren des Bundestags alles zu hören.
Unionsfraktionschef Volker Kauder etwa wertet das Ergebnis als gut, da Merkel im ersten Wahlgang gewählt worden sei. „Darüber freuen wir uns riesig“, sagt der CDU-Politiker. Auch vor vier Jahren habe Merkel nicht alle Stimmen bekommen. „Gegenstimmen gehören zur Demokratie dazu“, erklärt auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. „Aber wir haben eine klare Mehrheit, ich bin ausgesprochen zufrieden.“
GroKo-Gegner Bülow aus der SPD wählte Merkel nicht
FDP-Chef Lindner spricht dagegen von „Fehlstart“. Es zeige, „mit welcher schlechten Laune die große Koalition startet“. Und in der Unionsfraktion grummelt es tatsächlich. Man vermutet die Abweichler in den Reihen der SPD. Dort wiederum verweist man auf die innerparteilichen Gegner der Kanzlerin.
SPD-Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider spricht von „Abgeordneten, die ihr Mütchen kühlen“. Etwa der Dortmunder SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow. Der ausgewiesene GroKo-Gegner wählte Merkel nicht. Mehr als eine Woche habe ihn die Entscheidung belastet – „und ja, es zerreißt mich“, schrieb er in einer zweiseitigen Erklärung im Anschluss an die Wahl.
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Viele Blicke ruhen auf Martin Schulz
Viele Blicke im Saal ruhen am Mittwoch auf Martin Schulz. Der gescheiterte Kanzlerkandidat, der in nicht mal zwölf Monaten einen „Höllenritt“ erlebte, vom 100-Prozent-Vorsitzenden und Fast-Außenminister zum einfachen Abgeordneten abstürzte, war seit dem Ende der Koalitionsverhandlungen krankgemeldet. Eine verschleppte Grippe. Und eine schmerzende Seele. Beides musste in Würselen ansatzweise auskuriert werden.
Der frühere Buchhändler und langjährige EU-Parlamentspräsident, dem Europa besonders am Herzen liegt, las zuletzt eine Biografie des Historikers Peter Longerich über den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels. Die Weimarer Republik, die Probleme bei der Suche nach Koalitionen, die Propaganda von rechts, nicht nur Schulz will in Zeiten einer AfD-Fraktion im Bundestag für die Demokratie kämpfen. Auch dafür will der 62-Jährige sein Mandat wahrnehmen.
Angela Merkels vierte Wahl zur Kanzlerin
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Die Wahl und Vereidigung Merkels verfolgt Schulz von seinem Platz in der dritten Reihe aus. Zwischendurch kommen Thomas Oppermann und Heiko Maas zu einem Schwätzchen vorbei. Alle drei hätten gern Deutschland als Außenminister in unruhigen Zeiten vertreten – Maas hat es geschafft. Am Nachmittag übergibt ihm Gabriel die Amtsgeschäfte am Werderschen Markt. Nach der Kabinettssitzung eilt der neue Chefdiplomat zum Flughafen. In Paris wartet bereits sein Amtskollege.
Innenminister Seehofer erregt den Zorn der Saaldiener
CSU-Chef und Bundesinnenminister Horst Seehofer zieht währendessen den Zorn der Saaldiener auf sich. Er plaudert auf der Besuchertribüne mit einer Handvoll Journalisten. Für solche Gespräche ist im Bundestag ausdrücklich nur die Lobby vorgesehen.
Es geht allerdings ohnehin sehr rege zu an diesem besonderen Tag im Hohen Haus. Weil das Grundgesetz einen bestimmten Verlauf vorschreibt, pendeln einige Regierungslimousinen die rund zwei Kilometer zwischen Reichstag und Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, mehrfach hin und her. Nach ihrer Wahl fährt Merkel zum Schloss, um ihre Ernennungsurkunde abzuholen.
Das ist das Bundeskabinett
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Merkel schwört auf die Verfassung – „so wahr mir Gott helfe“
Zurück im Bundestag sitzt sie dann minutenlang allein auf der violetten Regierungsbank. Nur einmal in vier Jahren gibt es dieses Motiv. Sie ist schon zur Kanzlerin gewählt, ernannt, aber noch nicht vereidigt. Dann nimmt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ihr den Amtseid ab, hält ihr eine Erstausgabe der Verfassung vor.
Schäuble und Merkel kennen sich lange, sehr lange. „Geht es auf die Entfernung?“, fragt der ehemalige Finanzminister die kurzsichtige Merkel. „Geht schon“, schmunzelt diese und schwört dann auf die Verfassung, dass sie ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes“ widmen, seinen Nutzen mehren und Schaden von ihm wenden werde. Zudem verspricht sie, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen und ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. Sie beendet ihren Amtseid mit den Worten „So wahr mir Gott helfe“. Schäuble wünscht ihr im Anschluss „alles Gute auf ihrem schweren Weg“.
Steinmeier mahnt: Bundesregierung muss sich neu und anders bewähren
Erneut fährt Merkel, diesmal mit ihren künftigen Ministern, zum Amtssitz des Bundespräsidenten, wo nun die 15 Bundesminister offiziell ernannt werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die große Koalition nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche von Union, Grünen und FDP geschmiedet hat, spricht zu dem neuen Kabinett: „Vergangene Woche ging bei den allermeisten ein Aufatmen durchs Land – das war deutlich zu spüren. Es ist gut, dass die Zeit der Ungewissheit und Verunsicherung vorbei ist.“ Doch um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, „wird ein schlichter Neuaufguss des Alten nicht genügen“. Diese Regierung müsse sich neu und anders bewähren, mahnt der Bundespräsident.
Einer muss mit dem Tag der Vereidigung noch eine Wette einlösen: Unionsfraktionschef Kauder muss nach der Regierungsbildung bald in seiner roten Lederjacke in Berlin auftreten, so wie er es unlängst im Falle des Zustandekommens der neuen großen Koalition versprochen hatte. „Da müssen Sie noch ein bisschen warten, aber es kommt.“ Er wird die Jacke gern tragen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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