Berlin. Union und SPD loten jetzt in Gruppen aus, ob es für eine große Koalition reicht. Aber welcher Unterhändler will das Bündnis wirklich?
An einem mussten die 39 schwarz-roten Unterhändler zum Auftakt der Sondierungen am Sonntagmittag alle vorbei – Willy Brandt. Im Atrium steht die überlebensgroße Bronzestatue des sozialdemokratischen Übervaters, Ex-Kanzlers und Friedensnobelpreisträgers. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, sagte Brandt einst nach dem Fall der Berliner Mauer. Würde dieser Satz mit Blick auf Union und SPD im Entwurf einer Präambel eines Koalitionsvertrages auftauchen, könnte Martin Schulz bei den eigenen Leuten gleich einpacken.
Der aktuelle SPD-Vorsitzende schloss am Wahlabend die GroKo aus – nun sitzt er 106 Tage nach der Bundestagswahl und dem folgenden Scheitern der Jamaika-Verhandlungen mit Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) doch zusammen, um über eine vierjährige Vertragsverlängerung für das Bündnis zu feilschen.
Diesen GroKo-Faktor haben die Sondierer
Bis Donnerstagnacht sollen die Sondierungen beendet sein. Die Ergebnisse müssten dann einer Prüfung auf einem SPD-Sonderparteitag am 21. Januar in Bonn standhalten, bevor offizielle Koalitionsverhandlungen beginnen könnten. Aber wollen alle prominenten Sondierer und Strippenzieher aus CDU, CSU und SPD, jeweils 13 an der Zahl, überhaupt ein Comeback der großen Koalition?
Bei welchen Spitzenleuten das schwarz-rote Herz besonders heiß pocht, oder wer klammheimlich auf ein Scheitern spekuliert, zeigt ihr von dieser Redaktion ermittelter ganz persönlicher GroKo-Faktor:
Angela Merkel (CDU)
Die Kanzlerin will unbedingt weitermachen – in ihrem Amt und in der GroKo. Es wäre ihre dritte Auflage des Bündnisses mit der SPD. Die Genossen sind Merkel so vertraut, dass ihr das bisschen Regieren leicht von der Hand gehen wird. Außerdem: Merkels Kurs, die CDU möglichst breit in der politischen Mitte zu positionieren, ist mit einer GroKo nicht gefährdet. Es soll einfach alles weitergehen wie bisher. Hauptsache, die Regierung ist stabil.
GroKo-Faktor: 100 Prozent
Andrea Nahles (SPD)
Die Genossin aus der Vulkaneifel, als Arbeitsministerin von der Kanzlerin sehr geschätzt, will lieber gestalten, als auf der Oppositionsbank neben AfD und Linken zu schmoren. Klappt es mit der GroKo nicht, wäre das auch kein Beinbruch für die pragmatische Linke mit kraftvoller Sprache („Ab morgen kriegen sie auf die Fresse“). Den Fraktionsvorsitz will sie als Machtzentrum unbedingt behalten. Irgendwann soll der nächste Karrieresprung kommen. Ihr Berufswunsch in der Abizeitung: „Hausfrau oder Bundeskanzlerin.“
GroKo-Faktor: 80 Prozent
Markus Söder (CSU)
Der designierte bayerische Ministerpräsident will im Herbst die Landtagswahl gewinnen – und zwar mit absoluter Mehrheit. Koalitionspartner? Unerwünscht. Einem CSU-Fürsten ist es seit jeher egal, was außerhalb seines Freistaats geschieht und wer in Berlin mit wem regiert. Hauptsache, die CSU bleibt in Bayern Staatspartei. Richtig ist natürlich auch: Eine GroKo mit CDU-Kanzlerin ist noch immer besser als alles andere.
GroKo-Faktor: 50 Prozent
Olaf Scholz (SPD)
War schon 2013 einer der SPD-Architekten der großen Koalition. Der Hamburger Regierungschef könnte unter Umständen Bundesfinanzminister werden, was er zuletzt von sich wies, aber wer weiß. Scholz traut sich auch Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur zu. Die Herzen fliegen ihm jedoch noch nicht einmal in den eigenen Reihen zu. Beim jüngsten Parteitag bekam er als SPD-Vize nur 59 Prozent.
GroKo-Faktor: 90 Prozent
Thomas Strobl (CDU)
Der CDU-Vizechef regiert in Baden-Württemberg als Juniorpartner mit Grünen-Star Winfried Kretschmann und hätte Jamaika im Bund gut gefunden. Wie die anderen Konservativen glaubt Strobl, dass die Union in einem Jamaika-Bündnis mehr erkennbar eigene Positionen hätte durchsetzen können. In der GroKo dagegen stehen sich die Volksparteien gegenseitig auf den Füßen herum. Strobl findet sie aber besser als eine Minderheitsregierung oder Neuwahl.
GroKo-Faktor: 60 Prozent
Malu Dreyer (SPD)
Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die 2016 triumphal die Landtagswahl gewann und in einer Ampel mit FDP und Grünen regiert, gilt als härteste GroKo-Gegnerin in der SPD-Spitze. Sie hält eine Duldung einer unionsgeführten Minderheitsregierung für den richtigen Weg – so könne man Merkel kleinkriegen. Bei einer Neuwahl wäre Dreyer eine interessante Kanzlerkandidatin – aus gesundheitlichen Gründen will sie sich das aber nicht antun.
GroKo-Faktor: 25 Prozent
Horst Seehofer (CSU)
Sein Amt als Ministerpräsident ist er bald los, das des CSU-Vorsitzenden noch nicht. Horst Seehofer denkt nicht ans Aufhören. Lieber kehrt er als Minister nach Berlin zurück. Das war er schon zu Zeiten Helmut Kohls und in der ersten GroKo unter Merkel. Mit seinem feinen Gespür für die Themen der kleinen Leute könnte er das sozialpolitische Profil der Union schärfen und wäre deshalb als Arbeits- und Sozialminister weiter wichtig.
GroKo-Faktor: 100 Prozent
Michael Groschek (SPD)
Der ruppige Oberhausener mit dem Schnauzbart wird oft als Vertreter der alten „Ruhrpott“-SPD unterschätzt – beim Sonderparteitag vor möglichen Koalitionsverhandlungen sind aber die von Groschek angeführten nordrhein-westfälischen Delegierten eine Macht. Sie stellen ein Viertel des Parteitags. Gegen den Willen der Genossen an Rhein und Ruhr wird es keine GroKo geben.
GroKo-Faktor: 30 Prozent
Alexander Dobrindt (CSU)
Die Jamaika-Verhandlungen hat der Chef der CSU-Bundestagsabgeordneten torpediert, wo er nur konnte. Bei der Anbahnung der GroKo-Gespräche zeigt sich Dobrindt nun etwas zahmer. Noch einmal darf die Regierungsbildung nicht schief gehen. Dicke Freunde werden der bisherige Maut-Minister Dobrindt und die SPD nicht mehr, aber für vier weitere Jahre kann es noch mal reichen.
GroKo-Faktor: 40 Prozent
Sigmar Gabriel (SPD)
In der SPD kursiert der Witz, Gabriel habe vor seinem Abgang als SPD-Chef einen unterschriebenen Koalitionsvertrag in Merkels Safe im Kanzleramt hinterlegt, damit er Minister bleiben kann. Schulz hat ihn zwar aus dem Sondierungsteam verbannt, aber der populäre Außenminister ist in den Medien omnipräsent und macht einfach weiter mit der GroKo. Er wünscht sie sich noch mehr als alle GroKo-Freunde. An ein Ende seiner Karriere mag er nicht glauben.
GroKo-Faktor: 110 Prozent
Jens Spahn (CDU)
Wer in der CDU auffallen will, muss sich mit Merkel und ihrem Konsens-Kurs anlegen. Finanzstaatssekretär Jens Spahn inszeniert sich deshalb als junger Konservativer und eckt mit Positionen zu Islam und Zuwanderung bewusst an. Dem Talent passt eine GroKo mit Kompromissen à la Merkel nicht, er wirbt offen für eine Minderheitsregierung. Spahn wäre aber auch gern Minister, und das geht vorerst nur in einer GroKo. Also: Augen zu und durch.
GroKo-Faktor: 20 Prozent
Manuela Schwesig (SPD)
Seit Sommer Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. Sie unterstützte bis zum Jamaika-Aus vehement den Weg in die Opposition, sieht die GroKo skeptisch, weil ein Bündnis der geschrumpften Volksparteien die politischen Ränder im Osten noch weiter stärken könnte. Schwesig will erst aus dem Schweriner Amt heraus eine Landtagswahl gewinnen, um ihren Weg nach oben fortzusetzen. Führt der sie an die Parteispitze oder zur Kanzlerkandidatur?
GroKo-Faktor: 40 Prozent
Peter Altmaier (CDU)
Merkels engster Vertrauter in Partei und Regierung könnte fast jede politische Konstellation managen. Der Kanzleramtsminister ist ein großer Kompromiss- und Konsenssucher und damit wie geschaffen für eine Koalition der beiden Volksparteien. Seit mehr als 20 Jahren aber hält er auch engen Kontakt zu den Grünen. Ein Jamaika-Bündnis hätte er spannender gefunden. Weil Altmaier Pragmatiker ist, soll es nun die GroKo sein.
GroKo-Faktor: 80 Prozent
Martin Schulz (SPD)
Nach seinem Zickzackkurs in Sachen Opposition oder GroKo weiß man nicht so wirklich, was Schulz will. „Ich strebe gar nichts an“, sagte er unlängst vor den Jusos, die Schwarz-Rot mit allen Mitteln verhindern wollen. Der SPD-Chef muss in den Verhandlungen mit der Union nun extrem viel herausholen, um seine GroKo-müde Partei von einem erneuten Bündnis zu überzeugen. Dabei kämpft der gescheiterte Kanzlerkandidat um sein eigenes politisches Überleben. Er könnte Außen- oder Finanzminister werden – obwohl er vor der Wahl ausschloss, in ein Merkel-Kabinett einzutreten.
GroKo-Faktor: 0 bis 100 Prozent