München. Vor der Bundestagswahl bereist Matthias Iken das Land, spürt der Seele der Bundesbürger nach. Teil 9: Das Deutsche Museum in München.

Ach, München. Kann man diese Stadt nicht lieben? Im Norden macht man sich ja gern über krachlederne Bajuwaren lustig, verspottet ihren seltsamen Dialekt, schüttelt den Kopf über ihre noch seltsameren Trachten und blickt verwundert auf den Erfolg, der den Münchnern in den Schoß fällt. Wie wusste schon der Fernsehmoderator Robert Lembke: „Neid muss man sich erarbeiten, Mitleid bekommt man umsonst.“

Neidisch kann man werden, etwa wenn Ödön von Horváths Beschreibung aus dem „Ewigen Spießer“ in Wiederholungsschleife auf der Wetterkarte aufleuchtet: „Der Himmel blau, die Wolken weiß und bayerisch barock“ – und im Norden graut es. Wenn Wirtschaftsdaten die Münchner vorne sehen, der FC Bayern mal wieder Meister wird, Oktoberfest ist oder die Exzellenzmilliarden nach Schwabing fließen. Es gibt noch einen Grund, neidisch zu sein: Er liegt inmitten der Isar, ist fast 100 Jahre alt und bekannt wie ein bunter Hund – das Deutsche Museum.

Schau- und Staunraum

Wenn dort täglich um 14 Uhr die Starkstromvorführung beginnt, verwandelt sich das Museum in einen Schau- und Staunraum. Wissenschaft wird zum Event. Einige der Besucher kreischen vor Begeisterung, als sich der Strom um eine Glasscheibe entlädt; dann schlagen Blitze in Modelle ein, und als Höhepunkt zwängt sich ein Mitarbeiter des Museums in einen Faradayschen Käfig, auf den 220.000 Volt niederprasseln. Er wirkt wie ein Artist der Physik in einem Zirkus der Wissenschaft.

Drei Fragen an Prof. Wolfgang Heckl

Das Besondere am Deutschen Museum ist die dort erfundene kopernikanische Wende der Museumspädagogik. „Bitte nicht anfassen“, lautet der Satz, den Generationen gelangweilter Jugendlicher mit Ausstellungen verbinden. In München gilt seit den Eröffnungstagen des Gründers Oskar von Miller 1925 das Gegenteil: „Bitte anfassen!“ Mitmachen! Physik, Chemie und Astronomie als Jahrmarktattraktionen.

Die Frauenkirche in München
Die Frauenkirche in München © dpa

„Mit seinen Knopfdruckinstrumenten ist das Deutsche Museum die Mutter der Science Center – das Erfolgsmodell unseres Gründers Oskar von Miller hat sich auf der ganzen Welt verbreitet“, sagt Prof. Wolfgang Heckl, seit 2004 Generaldirektor des erfolgreichsten Museums der Republik. Wobei der Experimentalphysiker im gleichen Atemzug auf einen Unterschied zu den populären Technikschauen hinweist: „Science Center erklären die Naturwissenschaften nur, wir aber liefern auch den gesellschaftlichen Kontext, den historischer Bezug und die Folgen der Technik.“

Das Deutsche Museum versteht sich als forschendes Museum, ist Studienort und Denkfabrik zugleich. Schon bei der Gründung wollte Miller eine „alle Zweige der Naturwissenschaft und Technik umfassende vaterländische Sammlung“ schaffen. Seine Idee trägt bis heute, weil sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenrückt.

Wissenschaftler und Bürger zusammen

Zum Haus gehört das Ausstellungsgebäude, das Studienzentrum mit der größten naturwissenschaftlichen Bibliothek und ein „Forum der Zukunft“. Das Museum bringt Wissenschaftler und Bürger zusammen. Studenten arbeiten im gläsernen Labor, Besucher können ihnen über die Schulter blicken und Fragen stellen. Wissenschaft und Gesellschaft treten in einen Dialog, der nötiger scheint denn je.

Die Wahrnehmung des technischen Fortschritts hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Noch in den Jahren des Wirtschaftswunders regierte in Deutschland eine ungetrübte Fortschrittsbegeisterung, die mit Ölkrise und Umweltzerstörung einer Technologieskepsis gewichen ist. „Wir wollen den Dialog über die guten und schlechten Seiten führen. Keine Technik ist erfolgreich, wenn sie nicht innerhalb der Gesellschaft aufgenommen wurde“, sagt Heckl. Die verbreitete Klage, die technische Welt sei zu kompliziert, zu unüberschaubar geworden, teilt er nicht. „Im 18. Jahrhundert war die Dampfmaschine den Menschen auch zu schwierig.“

Stadt ist Technologiestandort Nummer 1

Die Sammlung ist so groß, dass man wochenlang durch das Museum stromern könnte und immer noch etwas Neues entdecken würde. Man reist durch die Zeit, durch die Menschheitsgeschichte, ja Menschwerdung. Die Höhle von Altamira ist nachgebaut, in der unsere frühen Vorfahren vor etwa 15.000 Jahren ihre Sicht der Welt auf Decken und Wände gemalt haben, einige Etagen weiter oben greift man im Planetarium nach den Sternen. Und im Keller kann man in Gruben vergangener Bergbautage hinabsteigen und Maschinen bewundern, die so seltsame Namen wie Blasversatzmaschine, Pochwerk oder Symons-Kegelbrecher tragen.

München profitiert bis heute vom Museum, die Stadt ist Technologiestandort Nummer 1, das Deutsche und das Europäische Patentamt liegen nur einen Steinwurf entfernt, die Universitäten zählen zu den besten des Landes und arbeiten eng mit dem Deutschen Museum zusammen.

Blick über die Ludwigsbrücke
Blick über die Ludwigsbrücke © Deutsches Museum |

Zugleich macht das Haus die Stadt internationaler; rund ein Drittel der jährlich fast 1,5 Millionen Gäste kommen aus dem Ausland, 400.000 Besucher sind unter 18 Jahren. Und wenn sich im Sommer die Regenwolken an den Alpen stauen, flüchten die Urlauber in die Millionenstadt – dann winden sich lange Schlangen um das Haus, und geduldig warten die Menschen eine Stunde, um Einlass zu bekommen. Es dürfte viele Museumsdirektoren geben, denen angesichts solcher Zahlen und Schlangen die Tränen des Neids in die Augen schießen.

Fast jeder Besucher findet im Museum etwas, das er mitnimmt, an das er sich erinnert, das ihn vielleicht sogar ein Leben lang begleitet. Auch Wolfgang Heckl hat seine Lieblingsexponate – das kleinste Loch der Welt, eingetragen im Guinnessbuch der Rekorde, das er selbst erforscht, ja erfunden hat, und das Mitmachinstrument zur Drehpulserhaltung. „Das gibt es übrigens schon seit der Eröffnung 1925“, sagt Heckl.

Das Museum hat auch eine Mission

Ein Museum hat immer auch eine Mission: Verstehen. „So toll das Internet auch ist, es bleibt das Bedürfnis, die Dinge zu riechen, zu schmecken, anzufassen, darüber zu reden“, sagt Heckl. Er glaubt, dass Museen immer wichtiger werden. „Uns ist der Glaube an die Zukunft abhandengekommen. Den müssen wir neu pflanzen“, sagt er. „Die Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, brauchen Entdeckungen und Erfindungen und deshalb wissenschaftlichen Nachwuchs.“

Diese Form der Nachwuchsförderung ist teuer. Und der Sanierungsstau ist auch an der Isar zu bestaunen. Derzeit wird das Haus generalsaniert, deshalb ist bis 2020 die eine Hälfte des Museums geschlossen, danach folgt die andere. Um die Kosten zu stemmen, muss Heckl Klinken putzen. Fürsprecher hat er viele – bei einer Kampagne machten Harald Schmidt, Willy Bogner und Reinhold Messner mit und ließen sich vor ihren Lieblingsexponaten fotografieren.

Es mangelt an Geld

Der Physiker Rudolf Mößbauer betonte, er wäre nie Nobelpreisträger geworden, hätte er nicht als Kind das Museum besucht. Der Dübel-Erfinder Arthur Fischer spendete sogar bis zu seinem Tod seine Rente an die Isar und betonte, stets zwei wichtige Orte in München zu besuchen. Das Deutsche Patentamt für seine Erfindungen und auf der gegenüberliegenden Seite das Deutsche Museum – dort habe er sich die Anregungen für seine Ideen geholt.

Auch die kleinen Besucher haben offenbar viel Spaß. Experiment
zur Drehimpulserhaltung
Auch die kleinen Besucher haben offenbar viel Spaß. Experiment zur Drehimpulserhaltung © HA | Matthias Iken

Trotzdem mangelt es an Millionen. Neun Unternehmen unterstützen die Generalsanierung mit jeweils fünf Millionen Euro. Die Gesamtinvestitionen deckt das nur zu einem Zehntel. Da würde sich der Hausherr mehr Geld aus der Wirtschaft wünschen, die doch auf wissenschaftlichen Nachwuchs angewiesen ist. „Viele Unternehmen betreiben und investieren heute in ihre eigenen Markenmuseen. Ich bedaure schon, dass ein hohes Marketingbudget für den Sport da ist – aber nicht für unsere Zukunft, die Naturwissenschaft und Technik.“ Für ein neues Eishockeystadion seien in München sofort 100 Millionen Euro da, das Museum müsse um jede Kleinstsumme kämpfen.

Ist die Naturwissenschaft in Deutschland inzwischen reif fürs Museum? Verwalten wir die Asche, oder reichen wir die Flamme weiter? In der Medizin wurde letztmalig 2013 ein Deutscher mit dem Nobelpreis prämiert, in der Chemie 2014, in der Physik 2007, in den Wirtschaftswissenschaften gar 1994. Regelmäßig gehen die Ehrungen in die USA – bis zum Zweiten Weltkrieg lagen die Deutschen vorn.

Kritiker sehen Alarmzeichen

Auch andere Alarmzeichen sehen Kritiker: Das Fraunhofer-Institut feiert sich im Deutschen Museum zu Recht als Erfinder des MP3-Formats, der Flüssig-Kristallschirme und der Internettelefonie. Aber Geld verdienen damit Amerikaner und Koreaner. Auch die Größen aus der Internetwirtschaft und der Biotechnologie kommen aus dem Ausland. Heckl übt sich in Zweckoptimismus: „So schlecht sind wir auch nicht. Aber uns fehlt ein bisschen der naive Glaube an die Zukunft.“

Das Volk der Dichter und Denker träumt heute oftmals von einer Karriere in den Medien oder im Showbusiness. „Die Vorbilder in den Medien sind Musiker oder Modedesigner – Naturwissenschaftler kommen kaum vor.“ Immerhin sieht Heckl in einer Zukunftsbrache die Deutschen vorn: „In der Robotik haben wir die Chance, in der digitalen Welt die USA wieder einzuholen, die uns mit Apple, Facebook, Amazon und Google davongelaufen sind.“

Norden kann von München lernen

München hat stets von seinem Museum profitiert – das Haus ist eingebettet in eine Forschungslandschaft bestehend aus Fraunhofer-Institut, Max-Planck- und Leibniz-Gesellschaft sowie TU und Teil der Exzellenzinitiative. Das macht die Stadt interessant für Forscher und Spitzenkräfte. Aber es lockt eben auch das Millionendorf, nicht nur die Forschungseinrichtungen. „Die Wissenschaftler und Gäste besuchen auch das Hofbräuhaus oder das Oktoberfest.“ München und das Deutsche Museum, sie gehören zusammen.

Von der Aussichtsplattform im Haus fällt der Blick auf eine faszinierende Stadt, die eben nicht nur eine anheimelnde Altstadt, sondern auch eine Kathedrale des Weltfußballs, Konzernzen­tralen internationaler Unternehmen und den Englischen Garten sein Eigen nennt. Und weit in der Ferne ahnt man die Alpen. Felix Bavaria.

Der Norden kann von München lernen, nicht nur von dem Zirkus der Wissenschaft, sondern vom dominierenden Lebensgefühl. Wo sonst in Deutschland trachten Besucher danach, Deutsche zu sein und streifen sich deren Trachten über? Wo sonst, abgesehen von bayerischen Wirtshäusern, mischt sich das Volk, treffen sich junge Familien, Studenten und Alteingesessene gemeinsam zum Schweinsbraten mit Weißbier? Wo sonst gibt es Lebensweisheiten in Schaufenstern, die man sogar noch in Hamburg in Zeitungsartikeln zitiert: „Glück ist keine Frage des Schicksals, sondern der Lebenseinstellung.“

Die Serienteile:

1. Zugspitze Faszination
Wandern: Höllentalangerhütte
2. Lüneburg Deutschland von außen: Prinz Asfa-Wossen
Asserate
3. Hamburg Singen für die Demokratie: Tournee mit Wolf Biermann
4. Weimar Deutsche Klassik: Geschichte im Kleinen
5. Wittenberg Im Lutherjahr: Was bleibt vom Glauben?
6. Wesenberg Landwirtschaft: Auf dem Bio-Gourmethof
7. Wolfsburg Das Automobil: VW-Werk
8. Hümmel Der deutsche Wald: Peter Wohlleben
9. München Land der Ideen: Deutsches Museum
10. Hamburg Spiel der Millionen: Das Miniaturwunderland