Sizilien mit seinen neun Millionen Einwohnern steht nach Misswirtschaft vor der Pleite. Der Staatsapparat wächst, die Privatwirtschaft verschwindet.

Palermo. Eine schwarze, stinkende Wolke waberte über Siziliens Hauptstadt Palermo, als Raffaele Lombardo gestern vor das Regionalparlament im prachtvollen Normannpalast trat, um sein Amt niederzulegen. Die Wolke war keine klimatische Kapriole im 40 Grad heißen sizilianischen Sommer, sondern ein typisch hausgemachtes Problem: In einer Mülldeponie im Ortsteil Bellolampo war kurz zuvor ein Brand ausgebrochen. Aber weder der Feuerwehr noch der Forstverwaltung mit ihrem 27.000 Mann starken Heer und modernen Löschflugzeugen gelang es, den Brand schnell zu löschen. Sizilien hat einen gigantischen Verwaltungsapparat, der jährlich Milliarden verschlingt und selten funktioniert. Über der Inselregion und ihren neun Millionen Einwohnern braut sich nun eine dunkle Wolke ganz anderer Art zusammen.

Nach jahrzehntelanger Misswirtschaft steht Sizilien vor einem wirtschaftlichen Debakel. Öffentliche Gelder sind verschwendet worden, in den Taschen korrupter Politiker und der Mafia gelandet, während niemand sich um Investitionen und Infrastruktur für die Wirtschaft kümmerte. Zudem leistet sich die autonome Region dreimal so viele staatliche Angestellte wie andere Regionen Italiens. Der Rechnungshof beklagte zuletzt die ausufernden Personalkosten im Staatsdienst, während die Steuereinnahmen im Jahr 2011 um 800 Millionen Euro zurückgingen. Kein Unwetter aus heiterem Himmel war daher auch der Warnschuss des Vizechefs der italienischen Industriellen, Ivan Lo Bello, der es vor zehn Tagen brutal auf den Punkt brachte: "Die Region Sizilien steht vor dem wirtschaftlichen Abgrund und riskiert, das Griechenland Italiens zu werden." Italiens Regierungschef Mario Monti war aufgeschreckt - ein Bankrott der Inselregion könnte seine nationalen Sparpläne durchkreuzen. Nur einen Tag später sah er sich gezwungen, mit einer Finanzspritze von 400 Millionen Euro Siziliens Liquiditätsprobleme abzuwenden. Danach musste Raffaele Lombardo gehen.

"Von einer Pleite sind wir weit entfernt", verteidigt sich der Ex-Gouverneur. Früher war er Christdemokrat, vertritt heute die "Bewegung für Autonomie", mit der er sich im Jahr 2004 von Berlusconis Partei "Volk der Freiheit" verabschiedete. Zum Interview bringt er eine Mappe mit, den Haushalt der Region, Zahlen zu Verwaltung und Wirtschaft, hübsch dekoriert mit sizilianischem Wappen. "Sie können es nachlesen", drängt er und blättert in den Papieren: Haushaltsvolumen 27 Milliarden Euro, Verschuldung 5,3 Milliarden. Klingt gut, fast normal, und Moody's habe das auch gewürdigt: Die Insel sei zwar kürzlich herabgestuft, aber immerhin mit der norditalienischen Region Venetien gleichgestellt worden, erklärt Lombardo. Doch dann gesteht er: "Unsere Liquiditätsprobleme sind eine Mischung aus fehlenden Steuereinnahmen und immer steigenden Kosten. Allein im Gesundheitswesen hat uns die Regierung Zuschüsse in Millionenhöhe gestrichen." Dabei dreht Lombardo aus einem Papiertaschentuch eine Schlange, beißt kleine Stückchen ab und kaut darauf herum. Dann lächelt er und greift auch hier der Frage vor: "Mein Zahnarzt hat mir Kaugummi verboten, weil sonst eine Krone platzt." Dann wendet er sich wieder ernsteren Themen zu. "Immerhin hat meine Regierung Neueinstellungen gestoppt, wir haben einfach zu viele Angestellte!"

Was Lombardo meint, wird im sizilianischen Bauministerium sichtbar. Das Gebäude mit riesigen Italien- und Europaflaggen über dem Portal liegt in einem Neubauviertel am Stadtrand. Dort mussten in den 60er- und 70er-Jahren die einzigartigen Jugendstilvillen von Palermo anonymen Wohnsilos Platz machen - eine wilde Bauspekulation, an der sich damals korrupte Politiker und Mafiaunternehmer bereicherten. In der Pförtnerloge am Eingang sitzen sechs Leute, spielen auf ihren Handys. Der 72-jährige Bauunternehmer und Minister Andrea Vecchio gilt als Querkopf der sizilianischen Regierung. Als solcher präsentiert er sich auch bei einer von ihm selbst geführten Besichtigungstour durch das Ministerium. "Sehen Sie, warum sitzen an diesem Tisch zwei Leute herum, die nichts tun?", klagt er. "Warum arbeiten in diesem Ministerium nur Architekten, während wir dringend Ingenieure bräuchten?"

Die Zahlen sprechen für sich. Die Region hat heute rund 20 000 Angestellte, 1800 von ihnen in leitendenPositionen. 2011 wurde die Gesamtzahl noch einmal um fast 30 Prozent aufgestockt. Die Gehälter sind großzügig - ein Stenograf im Regionalparlament kann es auf ein Monatseinkommen von bis zu 6500 Euro bringen. Jeder der 90 Abgeordneten im Regionalparlament kostet den Steuerzahler inklusive Gehalt und Zulagen rund 500 000 Euro jährlich. Insgesamt beziehen 144 000 Sizilianer ein Gehalt von der Inselverwaltung; allein in der Forstverwaltung arbeiten 27 000 Menschen.

"Sizilien ist das Schlaraffenland: Wer einmal seine Stelle hat, braucht nur noch auf den Feierabend und die Pension zu warten", erklärt Vecchio. "Er gibt dem Politiker, der sie ihm verschafft hat, seine Stimme und wird auch Verwandte und Freunde überzeugen, es ihm gleichzutun. Das hat Politikern ihre monolithische Macht gesichert und ist gleichzeitig der Grund für das Versagen der Verwaltung." An diesem System stoßen sich jetzt auch die Brüsseler Bürokraten. Sie wollen sechs Milliarden Euro an Strukturfonds stoppen, sollte die sizilianische Regierung nicht endlich die Anträge ordnungsgemäß bearbeiten. Die Rating-Agentur Standard & Poor's hat das Rating der Region eingefroren, weil Informationen fehlen.

Die Arbeitslosenquote liegt in Sizilien heute bei 19,5 Prozent, doppelt so hoch wie auf nationalem Niveau, unter den Jugendlichen ist fast jeder Zweite arbeitslos. Die Privatwirtschaft bietet erst recht keine Alternative. Der Industriellenverband verbuchte im vergangenen Jahr mehr als 600 Firmenpleiten. Es mangelt an Industrie und unternehmerischer Initiative - auch das hat einen historischen Hintergrund: Viele Unternehmen, von der Salzgewinnung bis zum Tourismus, wurden von der Region aufgekauft. So konnten noch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, aber der freie Markt ging kaputt.

Selbst die Mafia beginnt, sich aus dem Schutzgeldgeschäft zurückzuziehen. Sie verdient ihr Geld heute im reicheren Norden Italiens und investiert überall in Europa. "Die Mafia hat alsArbeitgeber und Wahlhelfer immer auch eine Rolle gespielt", erklärt der Journalist Enrico Del Mercato. Er hat sein Buch "Der Ballast" mitgebracht, in dem er Macht und Misswirtschaft sizilianischer Politiker anprangert. "70 Prozent der Wählerstimmen sichern sich die Politiker mit der fest verwurzelten Klientelwirtschaft", sagt er. "Korrupte Politiker haben auch mit der Mafia zusammengearbeitet, haben öffentliche Kassen und europäische Fonds geplündert, ohne je ein konkurrenzfähiges Wirtschaftssystem zu schaffen."