Wo steckt Muammar al-Gaddafi? Die Rebellen haben zwar die Residenz des bisherigen libyschen Machthabers gestürmt und eingenommen. Vom Diktator aber fehlt bislang fast jede Spur.

Tripolis. Dem bisherigen libyschen Machthaber Muammar al Gaddafi stehen jede Menge Verstecke zur Verfügung – auch nach dem Einmarsch der Rebellen in Tripolis und der Eroberung seines festungsartigen Anwesens. Der Untergrund ist eines davon. Es ist bekannt, dass der Mann, der Libyen 42 Jahre beherrschte, von deutschen Ingenieuren einen Bunker unter der Residenz Bab al Asisija bauen ließ. Auch gibt es Hinweise darauf, dass der Komplex über lange Tunnel an andere Orte in der Hauptstadt angeschlossen ist. Die Existenz der Tunnel ist umstritten. Aber eine Art Stadt im Untergrund passt zur Aura des flüchtigen Machthabers. Er kultivierte eine Mischung aus List, Gerüchten und Mythen, die das libysche Volk im Dunkeln lassen und Feinde verwirren sollte.

Diese Aura, zusammen mit brutalen Vergeltungsmaßnahmen, ermöglichten es Gaddafi, Dutzende Mordversuche und versuchte Staatsstreiche zu überleben. Seit dem Beginn des Volksaufstandes in Libyen vor sechs Monaten, glich Gaddafi einer geisterhaften Erscheinung, tauchte plötzlich an öffentlichen Orten auf, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Viele Rebellen waren davon überzeugt, dass Gaddafi sich in der Residenz Bab al Asisija versteckt hielt. Ein ranghoher Rebellenführer, Fathi al Badscha, sagte, es gebe Berichte, wonach der fast 70-jährige Oberst einen Herzinfarkt erlitt und bettlägerig sei. Als die Rebellen das Gelände am Dienstag einnahmen, fanden sie große Mengen an Waffen, einen der Golfwagen, mit denen sich Gaddafi fortbewegte, die Beduinenzelte, in denen er Empfänge abhielt – aber nicht Gaddafi selbst. Keiner weiß genau, ob er in jüngerer Vergangenheit überhaupt in der Residenz gewesen ist.

„Es gibt viele Rattenlöcher in Tripolis. Wir durchsuchen sie nach ihm“, sagte Oberst Ahmed Bani, ein Militärsprecher der Rebellen. Solange Gaddafi nicht dingfest gemacht wird, besteht die Gefahr, dass er zurückschlägt. Dem Machthaber treu ergebene Kräfte stehen noch immer in den Vororten der Hauptstadt. Auch über den Verbleib von Gaddafis Söhnen Chamis und Muatassim, ist nichts bekannt. Zwei Städte sind weiter unter der Kontrolle der Gaddafi-Kräfte: zum einen Gaddafis Heimatstadt Sirte an der Mittelmeerküste und zum anderen die Stadt Sebha, etwa 650 Kilometer südlich von Tripolis in der Sahara. Sebha verfügt über einen großen Militärflughafen. Sollte Gaddafi es hierher geschafft haben, steht ihm auch der Fluchtweg in die Nachbarstaaten Niger und Tschad offen. Rebellensprecher Bani sagte, es sei möglich, dass sich Gaddafi dort aufhalte. Rebellen und Einwohner von Sebha berichteten über Zusammenstöße in der Stadt zwischen Gadaffi-Treuen und Regimegegnern seit Tripolis eingenommen wurde.

Die Rebellen vermuten, dass der Machthaber seit Beginn der NATO-Luftangriffe auf Ziele in Tripolis konstant in Bewegung gewesen ist. Gaddafi sonnte sich selbst in der Aura des Unauffindbaren. „Ich bin an einem Ort, an dem ihr mich nicht fassen könnt“, sagte er in einer Fernsehansprache, die vor wenigen Wochen ausgestrahlt wurde. „Ich lebe in den Herzen der Millionen“, fügte er hinzu. Während des Aufstandes überraschte Gaddafi seine Anhänger damit, dass er plötzlich auf der historischen Roten Burg im Zentrum von Tripolis erschien, um eine Ansprache zu halten. Frühere Mitglieder des Regimes berichten, ein Tunnel verbinde die Burg mit der etwa drei Kilometer entfernten Residenz Bab al Asisija. Der Oppositionelle Mohammed Ganbawa aus Tripolis sagte, die Rebellen vermuteten, dass Gaddafi zwischen den Häusern seiner Söhne, einem Krankenhaus und sogar dem Rixos Hotel gependelt sei, indem auch viele ausländische Journalisten wohnen. In dem Hotel sei eine ganze Etage in eine Kommandozentrale umgebaut worden, sagte der ehemalige Weggefährte von Gaddafi, Abdel-Moneim al Huni, der inzwischen zu den Rebellen wechselte.