Kirchenchor und Schützenverein: Wie Winfried Kretschmann, 62, zum Shootingstar der Grünen und zum ersten Ministerpräsidenten wird.

Stuttgart. Die heiße Wahlnacht hat er offenbar gut verdaut. Aber: Der baden-württembergische Frontmann der Grünen, Winfried Kretschmann, sieht seine Partei nach dem historischen Sieg im Südwesten an einem Wendepunkt. „Wir kommen in Baden-Württemberg in eine neue Phase: Wir müssen jetzt führen“, sagte Kretschmann in Berlin. Er wolle als vermutlich künftiger Ministerpräsident das Land „mit Besonnenheit, Maß und Mitte“ lenken – in einer Koalition „auf Augenhöhe“ mit der SPD. Auf den Grünen laste nun eine „große Verantwortung“, sagte Kretschmann. Dem müsse die Partei gerecht werden.

Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg hatten die Grünen den Weg für einen historischen Machtwechsel geebnet. Sie erreichten 24,2 Prozent der Stimmen, verdoppelten damit ihr jüngstes Ergebnis und landeten vor der SPD. Die 58 Jahre währende CDU-Regierung im Land ist damit am Ende.

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Grün? Ha-noi!

Noch am Wahlabend haben Kretschmann und Nils Schmid (SPD) ihre Bereitschaft zu einer gemeinsamen Regierung signalisiert. Schmid ließ keinen Zweifel daran, dass die Grünen als stärkere Kraft in einem grün-roten Bündnis den Ministerpräsidenten stellen. Die Grünen kommen nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis auf 36 Sitze, die SPD auf 35 Abgeordnete.

Schmid räumte allerdings vor den Grünen-Anhängern auch unumwunden ein, dass es Konflikte zwischen beiden Parteien geben könnte. Er sei aber zuversichtlich, dass es unter der Wahrung der Identität beider Parteien gelingen werde, Baden-Württemberg ins 21. Jahrhundert zu bringen. Das Entscheidende sei, dass beide Parteien gemeinsam für den Wechsel im Land gekämpft hätten und nun die kommenden fünf Jahre zusammen regieren könnten.

Ein mögliches Konfliktfeld zwischen beiden Parteien ist „Stuttgart 21“. Die SPD ist für das Projekt, die Grünen lehnen es ab. Beide Politiker haben im Vorfeld der Wahl allerdings signalisiert, dass sie sich auf eine Volksabstimmung über „Stuttgart 21“ einigen könnten. „Am Schluss kann durchaus ein Volksentscheid stehen“, sagte der Grünen-Politiker in der ARD. Dies war eine zentrale Wahlkampfforderung der SPD in der Landtagswahl gewesen. „Jetzt müssen wir einen Stresstest machen, ob der Bahnhof überhaupt funktioniert. Ohne eine Nachbesserung von einer halben Milliarde Euro ist nichts zu machen. Dann sehen wir weiter“, sagte er.

Kretschmann ist ein Phänomen. Im Wahlkampf hatte der 62-Jährige mit seiner bescheidenen Art gerne den früheren Ministerpräsidenten Erwin Teufel (CDU) zitiert: „Das Amt muss zum Manne kommen und nicht der Mann zum Amt.“ Jenseits politischer Gegensätze fühlen sich die beiden Politiker auch sonst verbunden. Wie Teufel beschäftigt sich auch Kretschmann gerne mit Philosophie und Geschichte. Die beiden Katholiken waren sogar schon gemeinsam auf einer Kreuzfahrt zu historischen Stätten unterwegs.

Mit seiner wertkonservativen Grundhaltung entspricht der Lehrer für Ethik, Biologie und Chemie so gar nicht dem typischen Bild eines Grünen. Meist tritt er im dunklen Anzug auf, trägt eine randlose Brille und einen markanten grauen Bürstenhaarschnitt. Gerade mit seinem bedächtigen, ernsthaften Wesen hat der langjährige Oppositionspolitiker auch in konservativen ländlichen Regionen Vertrauen gewonnen. Seit 36 Jahren ist Kretschmann mit einer Grundschullehrerin verheiratet. Die beiden haben drei erwachsene Kinder – zwei Söhne und eine Tochter.

Er geht in der Freizeit gerne mit seiner Frau auf der Schwäbischen Alb wandern, wo er „jeden Felsen kennt“. Noch heute empfindet Kretschmann nach eigenen Worten eine tiefe Liebe zur Natur, die ihn vor mehr als 30 Jahren zu den Grünen gebracht hat. Im kleinen Ort Laiz bei Sigmaringen wohnt er in einem ehemaligen Bauernhaus, gehört dem Kirchenchor und dem Schützenverein an. Wenn Kretschmann im Landtag ans Redepult tritt, wird es auch auf der Regierungsseite still. Denn was er zu sagen hat, ist durchdacht, fundiert und von argumentativer Klarheit. Der scharfzüngige Redner mit der durchdringenden Stimme ergreift gerne bei Grundsatzfragen das Wort: bei Risiken der Bio- oder Gentechnik, beim islamischen Religionsunterricht oder bei der Frage, ob muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürfen.

Kretschmann gehörte schon der ersten grünen Parlamentsgruppe an, die 1980 in Stuttgart ins Parlament eines Flächenlandes einzog. Seither drücken die Grünen die harten Oppositionsbänke. Zeitweise sah es so aus, als würde sich das nie ändern. Dabei hätte er sich nach der Landtagswahl 2006 sogar auf eine schwarz-grüne Koalition eingelassen. Doch noch während der laufenden Gespräche mit den Grünen machte der damalige CDU-Fraktionschef Stefan Mappus dem damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) einen Strich durch die Rechnung.

In seiner studentischen Sturm- und Drangzeit hatte sich Kretschmann auch mal in maoistische Gruppen verirrt, sie aber wegen ihrer autoritären Grundhaltung bald wieder verlassen. „Vom Linksextremismus bin ich geheilt“, sagte er kürzlich mit Blick auf die Linkspartei. (abendblatt.de/dpa/dapd)