Die Bildungsministerin über Proteste, Demokratie und das Einheitsabitur. Das große Interview des Hamburger Abendblatts mit Annette Schavan.

Hamburg. Annette Schavan verbringt die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr für gewöhnlich am Bodensee. Im Abendblatt-Interview an ihrem Urlaubsort kündigt die Bildungsministerin und stellvertretende CDU-Vorsitzende eine "Allianz für Bildung" an - und mahnt die FDP, ihre Krise zu überwinden.

Hamburger Abendblatt: Frau Ministerin, "Wutbürger" ist zum Wort des Jahres 2010 gewählt worden. Eine kluge Entscheidung?

Annette Schavan: Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Das ist ein ziemliches Kunstprodukt.

Es war das Jahr der Proteste: gegen die Castor-Transporte, gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Und der Widerstand kommt nicht mehr allein vom linken Rand, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Hat die Politik das Ausmaß der Unzufriedenheit unterschätzt?

Schavan: Bürgerschaftlicher Einsatz mit sehr positiver Grundstimmung überwiegt nach wie vor. Gleichwohl finde ich: Die Proteste sind ein guter Auslöser, politische Entscheidungsprozesse zu verfeinern. Wir müssen den Dialog mit den Bürgern suchen.

Hilft mehr direkte Demokratie, um die Kluft zwischen Regierenden und Regierten zu schließen?

Schavan: Wichtig ist vor allem, dass Politiker zu ihren Entscheidungen stehen. Die Bürger wünschen sich Entschiedenheit in der Politik, keine Wackelei.

Was spricht eigentlich gegen Volksentscheide?

Schavan: Repräsentative Demokratie leistet Abwägung und Ausgleich von Interessen. Das sollten wir nicht unterschätzen. Gleichwohl habe ich Sympathie für die Anregung des Verfassungsrichters Kirchhof, bei Änderungen des Grundgesetzes Volksentscheide einzubeziehen.

In Hamburg haben die Bürger in einem Referendum die schwarz-grüne Schulreform gekippt. Das müsste ganz in Ihrem Sinne sein ...

Schavan: In der Tat ist der Vorschlag des schwarz-grünen Senats dem Bildungsstandort Hamburg nicht gerecht geworden. Das Gymnasium darf nicht geschwächt werden. Ich hätte mir gewünscht, dass zu dieser Erkenntnis kein Referendum notwendig ist.

Lässt sich der Großkonflikt um das Bahnprojekt Stuttgart 21 ohne Volksabstimmung befrieden?

Schavan: Die Schlichtung hat die Auseinandersetzung versachlicht. Ein nachträgliches Referendum über Stuttgart 21 ist schon aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Zu den Lehren gehört, dass große Projekte zu gemeinsamen Projekten von Politik und Bürgern werden müssen. Wir müssen Wege finden, den Bürgern mehr Einfluss auf die Gestaltung großer Infrastrukturvorhaben zu geben.

Glaubt man den Umfragen, haben die Grünen gute Chancen, im Südwesten ihren ersten Ministerpräsidenten zu stellen. Welche Folgen hätte ein Machtwechsel in Baden-Württemberg für die Bundespolitik?

Schavan: Die Grünen gewinnen ihre Zustimmung vor allem aus dem Protest. Sie sind eine Dagegen-Partei, der jede Idee für Fortschritt abhandengekommen ist. Und genau darum wird es in den nächsten Wochen und Monaten gehen: Welche Idee von Fortschritt haben wir für unser Land? Deswegen bin ich sehr zuversichtlich, dass Stefan Mappus Ministerpräsident bleibt.

Wie wichtig ist der Machterhalt in Hamburg?

Schavan: Hamburg ist mit der CDU und Ole von Beust sehr erfolgreich gewesen. Deshalb wäre es schade, wenn auf neun gute Jahre nicht das zehnte folgen würde.

Wird Angela Merkel 2013 in jedem Fall wieder als Spitzenkandidatin antreten - ganz gleich, wie die CDU bis dahin abschneidet?

Schavan: Warum sollte sie nicht? Angela Merkel ist weit über die Koalition hinaus anerkannt. Die CDU geht stärker in dieses Wahljahr, als sie vor zwölf Monaten war.

Wer hat sonst noch Kanzlerformat?

Schavan: Wer eine starke Kanzlerin hat, redet nicht über das Kanzlerformat von anderen.

Sie haben auf dem CDU-Parteitag das schlechteste Wahlergebnis aller vier Merkel-Stellvertreter bekommen. Mindert das Ihren Einfluss?

Schavan: Nein, das ist der Lauf der Zeit. Wer viele Jahre das beste Ergebnis hatte, kann auch mal anderes vertragen.

Können Sie uns erklären, warum Angela Merkel auf dem Karlsruher Parteitag Schwarz-Grün als Hirngespinst bezeichnet hat?

Schavan: Hamburg hat die Kanzlerin doch bestätigt. Der Auszug der Grünen aus der Koalition hat auch vielen, die mit Schwarz-Grün liebäugeln, einen Stich versetzt. Atmosphärische Gründe reichen eigentlich nicht, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Gerade weil manche dieses Projekt so interessant fanden, ist die Enttäuschung über das lapidare Ende so groß. Ich bin eine Anhängerin christlich-liberaler Koalitionen - in den Ländern wie im Bund.

Schwarz-Grün ist tot?

Schavan: Es wird auch andere Konstellationen geben als Schwarz-Gelb. Schwarz-Grün ist nicht tot - weder in den Ländern noch im Bund. Ein solches Bündnis kann an dem Tag politische Realität werden, an dem die Grünen über Protest und Neinsagen hinauskommen.

Wann wird das sein?

Schavan: Die jetzige Verfassung der Grünen ist rückwärtsgewandt. Aber Parteien können schnell Wendungen nehmen.

Die FDP bewegt sich rasant auf die außerparlamentarische Opposition zu. Glauben Sie ernsthaft, bei der nächsten Bundestagswahl könnte es reichen für eine Neuauflage von Schwarz-Gelb?

Schavan: Selbstverständlich glaube ich das. Die FDP war schon oft totgesagt und ist wieder auferstanden.

Die Liberalen diskutieren offen darüber, ob Guido Westerwelle noch der richtige Parteichef ist. Kann der amtierende Vorsitzende die FDP wiederbeleben?

Schavan: Schwierige Situationen werden am ehesten gemeistert durch Geschlossenheit der Führung. Die Liberalen müssen deutlich machen, dass sie gute Ideen haben für das Land. Politik ist mehr als Steuerpolitik. Die Liberalen haben einen Fundus, den sie aktivieren müssen.

Wer kann das übernehmen?

Schavan: Die FDP hat erfahrene ältere und kreative junge Köpfe. Daran kann es eigentlich nicht liegen. Ich erwarte, dass Guido Westerwelle den Liberalen bei ihrem Dreikönigstreffen am 6. Januar neue Ideen präsentiert.

Wenn man überlegt, was Wort des Jahres 2011 werden könnte: "Bildungsrepublik Deutschland" wird es wohl wieder nicht sein. Ist Ihre Vision ein Luftschloss?

Schavan: Überhaupt nicht. Trotz aller föderalen Querelen sind wir auf dem Weg zur Bildungsrepublik Deutschland viel weiter fortgeschritten, als das manchmal den Anschein hat. Das Jahr 2011 wird für die CDU programmatisch stark von Bildungspolitik geprägt sein ...

... inwiefern?

Schavan: Die CDU wird ein bildungspolitisches Grundsatzpapier entwickeln. Unsere Gesellschaft hat sich sehr verändert. Es ist Zeit für Neues im Bildungssystem. Wir brauchen überzeugendere Antworten auf die Frage: Was und wie soll gelernt werden? Es ist Zeit, dass die Gesellschaft ihre Kräfte mobilisiert für gute Bildung. Wir müssen eine bildungshungrige Gesellschaft werden. Daher wird die Bundesregierung eine Allianz für Bildung schmieden.

Was verbirgt sich dahinter?

Schavan: Die wichtigste Botschaft des Jahres 2011 muss sein: Allen Kindern werden noch bessere Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Das darf nicht allein an die Schulen delegiert werden. Viele Institutionen im Sport und in der Kultur sind bereit, an einer konzertierten Aktion mitzuwirken ...

... die wie aussieht?

Schavan: Ich strebe Rahmenvereinbarungen mit Bibliotheken, Theatern oder Sportvereinen an. Gute Angebote für Kinder, kostenfreier Zugang, Partnerschaft mit Schulen - das sind die Ziele. Mir geht es um eine möglichst breite Allianz. Wer in einigen Jahren auf Deutschland schaut, soll erkennen, dass dieses Land alle gesellschaftlichen Kräfte für gute Bildung aktiviert hat.

Schneidet Deutschland dann auch beim PISA-Test besser ab?

Schavan: Davon bin ich überzeugt.

Kann ein föderales Bildungssystem in die Weltspitze aufsteigen?

Schavan: Selbstverständlich. Ein selbstbewusster Föderalismus braucht allerdings kein Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Bildungspolitik. Zu unseren Aufgaben wird gehören, den selbstbewussten Föderalismus weiterzuentwickeln. Wenn fünf Länder sich auf den Weg zu einem gemeinsamen Abitur machen, ist das ein erster wichtiger Schritt.

Wird es dazu kommen, dass alle Schüler in Deutschland das gleiche Abitur machen?

Schavan: Ich wünsche mir, dass alle 16 Bundesländer ihr Abitur in den zentralen Fächern aus einem gemeinsamen Aufgabenpool gestalten. Das wäre gerecht - und erleichtert Mobilität. In der beruflichen Bildung ist das seit Jahrzehnten selbstverständlich. Die Ausbildungsordnung für den Schreiner oder den Informatiker ist in Hamburg die gleiche wie in Stuttgart.

Wann wird es so weit sein?

Schavan: Ich denke, das ist noch in diesem Jahrzehnt möglich.